Separatisten a̶l̶l̶e̶r̶ ̶L̶ä̶n̶d̶e̶r̶ vereinigt euch! Zwei Moskauer „Dialoge der Nationen“ im Vergleich – Teil 1

Die erste der beiden bis dato abgehaltenen „Separatisten-Konferenzen“ fand am 20. September 2015 statt. Angekündigt waren insgesamt elf Delegationen, die zwar aus unterschiedlichen Ecken des Planeten anreisten, aber dennoch überdurchschnittlich separatistische Bewegungen aus den USA, und keine einzige aus Russland repräsentierten.

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Am 25. September 2016 fand in Moskau schon zum zweiten Mal eine Konferenz statt, deren vollständiger offizieller Name wie folgt lautet: „Dialog der Nationen. Das Recht der Völker auf Selbstbestimmung und Aufbau einer multipolaren Welt.“ Im vergangenen Jahr wurde die Veranstaltung von den Organisatoren als eine „Experten-Konferenz“ beworben, in diesem Jahr handelte es sich um eine „Menschenrechts-Konferenz“.[1]

Der Begriff „Multipolarität“ wurde durch Stanley Hoffmann eingeführt.[2] In den Schriften der „postmodernen“ Moskauer Polittechnologen der Neunziger gewann dieser eine neue Bedeutung und wurde unter anderem durch den Eurasier Alexander Dugin popularisiert. Seit der Orangen Revolution 2004 in der Ukraine und der nachfolgenden rechtskonservativen Wende in Russland wurde der Begriff „Multipolarität“ schrittweise in den offiziellen Diskurs der russischen Machthaber aufgenommen.

„Multipolarität“ bedeutet in diesem Kontext in erster Linie eine Infragestellung der universellen Gültigkeit der Menschenrechte, sowie die Bevorzugung einer Welt, in welcher nicht nur eine angebliche Alleinherrschaft der USA, sondern auch die Beibehaltung der jeweils eigenen Einflussbereiche durch andere Mächte möglich ist (etwa die Ukraine durch Russland, einige Länder des Nahen Osten durch den Iran usw.).

Was Deutschland angeht, so kann man sich allerdings fragen, wann dieser wunderbare Begriff durch die sogenannten „Antiimperialisten“ sowie übrige friedensbewegte Menschen im Kampf gegen das „System“ und „die da oben“ nun endlich aufgegriffen wird.

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Multipolarität unter fünf Sternen: Die zweite Separatisten-Konferenz im Moskauer „Ritz-Carlton“

Wie schon im vergangenen Jahr wurde die diesjährige Konferenz durch eine staatliche Stiftung mitfinanziert, deren Vorstand vom Patriarchen der russischen christlich-orthodoxen Kirche, Kirill, geleitet[3] wird. Kirill unterstützt ein komplettes Abtreibungsverbot und erklärte den russischen Syrien-Einsatz zu einem „heiligen Krieg“.[4] Im letzten Jahr stellte die Stiftung circa zwei Millionen Rubel für die Konferenz zur Verfügung, dieses Jahr belief sich die Unterstützung auf dreieinhalb Millionen.[5]

Wegen Raummangels – so die Organisatoren – musste die Konferenz dieses Jahr vom Präsidenten-Hotel ins „Ritz-Carlton“ wechseln. Die beiden Lokalitäten können sich sowohl mit fünf Sternen als auch mit einer besonderen Nähe zum Kreml rühmen. Im ersten Fall handelt es sich um eine administrative Zugehörigkeit (das Präsidenten-Hotel befindet sich im Besitz der Präsidialverwaltung). Im zweiten Fall geht es um geographische Nähe: Das „Ritz-Carlton“ befindet sich auf dem Maneschnaja-Platz, direkt gegenüber dem Kreml.

In der Tat deutet alles darauf hin, dass die Konferenz auch in einem übertragenen Sinne unter den Auspizien von fünf Sternen stattfand: Die Türme des Kreml tragen nämlich insgesamt fünf kostbare Sterne aus Rubin-Glas.

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Auf der Konferenz „Dialog der Nationen“ von 2015: Das Banner der „Antiglobalistischen Bewegung von Russland“

Veranstaltet wurde die Konferenz von einer Organisation namens „Antiglobalistische Bewegung Russlands“ (ABR). Das Banner der ABR vereinigt all das, was auch manchem friedensoffenen Wahnwichtel aus der Bundesrepublik das Herz beflügeln kann: Eine Friedenstaube, Olivenzweige und ein blauer fünfzackiger Stern in Kombination mit einem Erdball.

Die Konferenz hat womöglich einen weiteren sehr beachtenswerten Mitveranstalter, darauf gehen wir später ein.

Abgesehen von einer jungen Mitarbeiterin, scheint die ABR aus einem einzigen aktiven Mitglied zu bestehen, Alexander Ionow. Kompensiert wird dieser bescheidene Umstand dadurch, dass Ionow kein einfaches Mitglied, sondern gleich „Präsident“ der ABR ist.[6] Zwei weitere Menschen, der Präsident Syriens Baschar al-Assad und der ex-Präsident des Iran Mahmud Ahmadinedschad gehören laut offizieller Website der ABR zu den Ehrenmitgliedern der Organisation.[7] Wir gehen aber davon aus, dass sie keine aktive Rolle in deren praktischer Arbeit spielen. Es sei denn, man würde dazu das Posieren auf Fotos mit Alexander Ionow zählen (der junge Mann ist stolz auf die Fotos und zeigt sie gerne auf seinem Handy).[8]

Alexander Ionow auf einer pro-Assad Kundgebung in Moskau. Die Fahnen der “Eurasischen Bewegung” von Alexander Dugin im Hintergrund.

Wer ist Alexander Ionow? Der Mann ist 26 Jahre alt und hat an einer Moskauer Wirtschaftshochschule studiert. Eigenen Angaben zufolge leitet er eine Firma, die ihr Geld mit „internationalem Handel und Investitionen“ verdient.[9] Außer der Leitung der ABR gehört er noch zum Vorstand der russischen Antimaidan-Bewegung und zur Leitung einer Organisation namens „Russische Offiziere“.[10] Ionow selbst ist dabei nicht nur kein Offizier, sondern hat auch keinen einzigen Tag in der Armee gedient.[11]

Die Organisation „Russische Offiziere“ ist eine typische putintreue Jugendorganisation. Genau an dem Tag, an dem die zweite Separatisten-Konferenz stattfand, verhinderten die „Russischen Offiziere“ eine Fotoausstellung in Moskau (wegen angeblicher Pädophilie).[12]

“Antimaidan“ fordert die Säuberung der „fünften Kolonne“ (Moskau, 21. Ferbruar 2015)
Die Ideologie des „Antimaidans“ auf einem Plakat: „Maidan gleich Faschismus!“ (Moskau, 21. Februar 2015)
“Russische Offiziere” blockieren die Fotoausstellung von Jock Sturges im “Brüder Lumier Zentrum für Fotografie“ (Moskau, 25. Septemper 2016)

Ionow präsentiert sich auch als einen „Sondergesandten der Volksrepublik Donezk“. Er kümmere sich um den Aufbau der „diplomatischen Beziehungen der DVR“ im Nahen Osten und Lateinamerika. Darüber hinaus ist er Mitvorsitzender des „Komitees für Solidarität mit den Völkern von Syrien und Libyen“.

Außer Ahmadinedschad und Assad traf sich Ionow mit der Präsidentin von Argentinien, Cristina Fernández de Kirchner, und dem Präsidenten Venezuelas, Nicolás Maduro. Mit den Söhnen des ehemaligen Präsidenten Libyens traf sich Ionow ebenfalls und besuchte zumindest eine feierliche Veranstaltung in der Botschaft Nordkoreas in Moskau.[13]

Für seine regen außenpolitischen Aktivitäten bekam Ionow 2014 eine Urkunde von Wladimir Putin. Dieselbe zeigte er stolz auf der Pressekonferenz vor dem Beginn der diesjährigen Veranstaltung.[14]

Womit auch der junge Mann seinen Lebensunterhalt verdienen mag, sein Äußeres zeugt von angenehmen Verhältnissen: Ein schicker Anzug, ein kostbarer Ring und eine Uhr, deren Wert sich auf einen mehrstelligen Betrag schätzen lässt.

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Alexander Ionow, „Präsident“ der „Antiglobalistischen Bewegung von Russland“ und Mitvorsitzender weiterer beachtenswerten Organisationen.

Aus dem letzten Jahr

Die erste der beiden bis dato abgehaltenen „Separatisten-Konferenzen“ fand am 20. September 2015 statt. Angekündigt wurden insgesamt elf Delegationen, die zwar aus unterschiedlichen Ecken des Planeten ankamen, dennoch überdurchschnittlich separatistische Bewegungen aus den USA und dabei keine einzige aus Russland repräsentierten.

Es waren Vertreter einiger bekannter und gewichtiger Bewegungen dabei, jedoch wird die geneigte Leserschaft der Mehrheit der Teilnehmer (und es waren nur Männer) wohl zum ersten Male begegnen.

Es trafen sich Leute, die für die Unabhängigkeit von Texas, Hawaii, Puerto Rico, West Sahara, Katalonien und Nordirland kämpfen, dazu kam noch eine weitere, schwarze separatistische Bewegung aus den USA.

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Auf einem Konferenz-Banner: „Freiheit für die Volksrepublik Texas!“. Das „X“ unten in der Mitte dürfte sowohl an den verlorenen Süden der Sklavenhalter, als auch an die hochmodernen „Volksrepubliken“ in der Ostukraine erinnern. Die weiteren Details sind ebenfalls subtil und bescheiden: Während der Stern die im Frieden ruhende UdSSR in Erinnerung ruft, ist Texas mit den Farben der Flagge der Russischen Föderation bemalt und nimmt etwa die Hälfte des US-amerikanischen Territoriums ein.

Die anwesenden Vertreter von Sinn Féin können streng genommen nur bedingt als „Separatisten“ bezeichnet werden (denn eigentlich wollen sie ja eine Wiedervereinigung von Irland). Doch noch weniger trifft das auf unterschiedliche, sagen wir „Slawophile“, aus Belarus, der Ukraine und Russland zu, die nicht so sehr irgendeinen „Separatismus“, sondern den guten alten russischen Nationalismus imperialer Prägung repräsentieren.

Die ostslawische Dreieinigkeit bedeutet nämlich nichts Neues bzw. nichts anderes als ein großes und starkes Russisches Reich. Keine Überraschung also, dass die Vertreter „Neurusslands“ auch an der Konferenz teilnahmen.

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Artem Scharlai ― ein russischer Nationalist aus der ukrainischen Saporischa und ehemaliger Kämpfer der „volksrepublikanischen“ Abteilung „Troja“. Auf dem Banner mit dem Christus-Bild steht: „Für den [christlich-orthodoxen] Glauben, für den Zaren und für die heilige dreieinige Rus“.
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Während der ersten „Separatisten-Konferenz“: Alexander Ionow, Wladimir Rogow und Artem Scharlai.

Die Besucher der Veranstaltung waren nicht weniger interessant: Unter ihnen befanden sich Mitarbeiter der nordkoreanischen Botschaft, irgendwelche russischen Gaddafi-Bewunderer, die dessen Werke und sogar dessen Büste zur Konferenz mitbrachten, sowie zahlreiche uniformierte und für „Tapferkeit im Kampf“ für die sogenannten Volksrepubliken in der Ostukraine ausgezeichnete Personen.

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„Dialog der Nationen“: Beim Kaffeetrinken in der passenden Bekleidung.

Die Bedeutsamkeit der Konferenz sticht schon dadurch ins Auge, dass gleich zu ihrem Beginn Ahmadinedschad und Assad einstimmig in das Präsidium gewählt wurden. Die beiden hochrangigen (bzw. ehemals hochrangigen) Männer waren zwar nicht anwesend, und erfuhren von dieser Wahl womöglich – wenn überhaupt – nur nachträglich, doch solche irdischen Umstände konnten nicht verhindern, dass ihre segensreichen Geister ins Präsidium aufstiegen. (ungefähr mit dem gleichen Erfolg könnte man auch Gaddafi dazugesellen.)

Birjukov_i_chuvak_v_futbolci_z_Gadafi.jpgAm runden Tisch während der ersten „Separatisten-Konferenz“ in Moskau: Fedor Birjukow von der nationalistischen Rodina-Partei (mit Kahlkopf und Bart) und ein Anhänger von Gaddafi (im weißen Anzug und in demselben grünen T-Shirt, das auch von Tobias Pfennig von der Münchner „Antiimperialistischen Aktion“ gerne getragen wird[15]).

Die Konferenz war auch ansonsten wunderbar. Die Inhalte der Konferenz sind zu einem großen Teil über YouTube zugänglich und verdienen eine kurze Zusammenfassung.[16]

Die Ansprache anlässlich der Eröffnung der Konferenz hielt Alexander Ionow. Unter anderem merkte er Folgendes an: „Unser Hauptziel ist die Vernichtung der Prinzipien der Einmischung in die Angelegenheiten der unabhängigen Staaten durch politische, wirtschaftliche und militärische Einmischung“ (stilistisch betrachtet ist bereits das russische Original kein Meisterwerk).

Ionow behauptet, die „Flüchtlingströme“ in den Westen seien die Folge einer westlichen Einmischung in Syrien. Die russischen Bombardements begannen zwar erst am 30. September 2015, also zehn Tage nach der Konferenz – aber bereits zu diesem Zeitpunkt erhielt das syrische Regime eine immense militärische Unterstützung aus Russland, ohne welche Assad vermutlich nicht hätte durchhalten können.

Deutschland: Auf einer linken Demonstration „für Frieden“.

“Danke Putin für Frieden!“ – ein Plakat in Luhansk,
aufgehängt noch im Jahr 2013.
[17]

Aleppo nach der — wie es in den antiimperialistischen Kampblättern heißt — „Befreiung“.[18]

Doch selbst die über ein Jahr andauernden Bombardements änderten nichts am Hauptnarrativ der russischen Staatspropaganda und der „antiimperialistischen“ Kampfblätter. Eine Reihe der üblichen Whataboutismen in einem Junge Welt-Artikel, der genau am 30. September 2016 veröffentlicht wurde, endet etwa mit der folgenden Schlussfolgerung: „Insofern fällt die Brutalität der Angriffe auf Aleppo auf die Falschspielerei der USA zurück“.[19]

Davon, wie weit das doch sehr pauschale Erklärungsmuster, der Hauptverantwortliche für die Zustände in Syrien sei „der Westen“, in der deutschen Linken verbreitet ist, zeugen beispielsweise das RT-Interview von Sahra Wagenknecht (ausgestrahlt wenige Tagen, nachdem sie zur Spitzenkandidatin der sogenannten Linkspartei gewählt wurde),[20] die Aufregung Wolfgang Gehrckes wegen der Protestkundgebung vor der Russischen Botschaft in Berlin,[21] das Sputnik-Interview eines weiteren MdB der „Linkspartei“ Diether Dehm[22] oder die ständigen Relativierungen von Parteigrößen wie Gregor Gysi und Alexander Neu.[23]

Und das trifft nicht nur auf die Partei „Die Linke“ und die üblichen pro-russischen Friedenstreiber zu – sondern ganz allgemein auf die deutsche Linke. Um sich das zu veranschaulichen, reicht es, Demos wie die gegen TTIP mit den Protesten gegen die neueren russischen Angriffskriege zu vergleichen.

Während an antiamerikanischen Demonstrationen tausende deutscher Linker teilnehmen, beschränkt sich deren Teilnahme an Putin-kritischen Kundgebungen nach wie vor auf Einzelpersonen. Wenn Menschen aus Syrien einen Protest in Deutschland organisieren, können sie eher mit der ukrainischen Exilcommunity oder deutschen Schriftstellern rechnen, als mit einem nennenswerten deutsch-linken Zusammenhang – von der sogenannten „Friedensbewegung“ mal ganz zu schweigen.

Auf einer pro-Assad Demo in Syrien. Man kann sich nur vorstellen, wie groß die Aufregung unter den deutschen „Antiimperialisten“ wäre, würde das Bild, sagen wir, vom ukrainischen Maidan stammen.
Nichts Neues: „Für Frieden“ damals (Berlin, 1951)
Nichts Neues: „Für Frieden“ heute (Berlin, 2015)

Da Russland im Unterschied zu Deutschland und vielen weiteren EU-Staaten gar keine Flüchtlinge aus Syrien aufnimmt,[24] verfährt die russische Propaganda noch zynischer, wenn die gestiegene Anzahl der Flüchtlinge in Westeuropa gleichzeitig als weiterer Beleg für den Untergang des Westens ins Feld geführt wird – also der angebliche Untergang durch die angebliche Schwächung von Traditionen und ethnischer Homogenität, durch Islamisierung, vergewaltigte russischstämmige Mädchen und dergleichen mehr.

Gleich nach Ionow sprach Ramón Nenádich, der “Präsident der Interimsregierung des nationalen souveränen Staates Borinquen” (Puerto Rico). Seine Rede war wohl die „linkste“ bei dieser lechts-rinken Versammlung. Nenádich prangerte die internationalen Korporationen an, rügte den Internationalen Währungsfond mit seiner „Schockdoktrin“ und befürwortete die Stärkung der Arbeiterklasse. Er trat für die Einführung einer Mehrwertsteuer für internationale Korporationen auf, sowie für den Aufbau einer „multipolaren Welt“, welche imstande sein werde, die „supraimperialen Kräfte“ zu besiegen, und die Ausbeutung der Arbeiter abzuwehren.

Des Weiteren wird seiner Meinung nach die Souveränität der europäischen Länder durch die EU untergraben, wodurch sie in „banana republics“ der USA verwandelt werden. Die militärischen Eingriffe Russlands im Ausland verdienten bei Nenádich keine Erwähnung.

Störende Fakten – zum Beispiel zum neoliberalen Umbau Russlands, der viel tiefgreifender vollzogen wurde, als beispielsweise in der Ukraine, Belarus und den baltischen Staaten, oder über die Kluft zwischen Arm und Reich, die in Russland deutlich größer ist, als in allen EU-Ländern, oder über die Militärausgaben, deren Anteil am russischen Haushalt wesentlich größer ist, als in allen anderen europäischen Ländern – wurden von ihm ebenfalls an keiner Stelle erwähnt.

Was materielle Ungleichheit anbelangt, so steht Russland mehreren zuverlässigen Erhebungen zufolge eigentlich schon seit einigen Jahren weltweit auf Platz Nummer eins.[25] Doch wenn man in Putin bereits den wahren Retter vor den USA und restlichen Übel erkannt hat, werden einen solche Fakten wohl kaum berühren.

Die Tiefen der antiimperialistischen Erkenntnis: Auch in der Ukraine kämpfen die USA fürs Öl (auf einer Demo in New-York, 2014)
“USA, Hände weg von unseren Renten!“ (auf einer Antimaidan-Demo in Moskau, 2015)
Der wahre Retter: Auf einer Bagida-Demo (München, 2015)

Nach Nenádich sprach der Vertreter einer weiteren separatistischen Bewegung aus den USA. Lanny Sinkin, ursprünglich ein Unternehmer aus dem Texas, vertritt seit ein paar Jahren die Interessen des „Königs von Hawaii“, Edmund Keli‘i Silva.

Selbst wenn Sinkin die Wiedereinführung der Monarchie befürwortet und ansonsten nicht viel Emanzipatorisches vertritt, kann man auf Wunsch auch bei ihm ein paar „linke“ Inhalte heraushören. So sei das Privateigentum eine für das hawaiische Volk fremde Idee, die auf die Insel erst mit Europäern kam. Davor sah das wirtschaftliche System auf Hawaii kein Privateigentum vor, weil das Land den Göttern gehörte.

Als Lanny Sinkin mit dem Vorlesen fast fertig war, waren einige bereits eingeschlafen.

Als Nächster sprach der Vertreter einer schwarzen separatistischen Bewegung aus den USA. Omali Yeshitela aus der Uhuru-Bewegung präsentiert sich auch als Sekretär einer revolutionären Organisation, African People‘s Socialist Party (deren Reichweite sich nur auf die Vereinigten Staaten beschränkt).

In seiner Rede vertrat Yeshitela den Standpunkt, dass friedliche Mittel nicht brauchbar seien, sobald es um den Widerstand gegen den US-amerikanischen Imperialismus gehe. Er sprach von „Neokolonialismus“, welcher sowohl in den USA als auch auf dem ganzen Planeten herrsche. So sei die Ernennung Barack Obamas zum US-amerikanischen Präsident ein Beispiel des „Neokolonialismus“ ―, im Grunde handle es sich um „white power hidden behind black face”.

Laut Yeshitela fallen die Lebensbedingungen der Schwarzen in den USA unter die Genozid-Definition der UN. Er bestand auf dem Recht der Schwarzen auf den bewaffneten Widerstand gegen den US-amerikanischen „Neokolonialismus“ sowie auf die Notwendigkeit der Gründung revolutionärer Räte in den schwarzen Communities.

Ob die Einwohner dieser Communities selbst Yeshitelas Sicht auf das Notwendige teilen, wissen wir nicht. Doch bekanntlich halten echte Revoluzzer von der Meinung der Mehrheit und den übrigen Chimären des Liberalismus nicht viel. Schließlich besteht Omali Yeshitela nachdrücklich auf dem Recht der Rückkehr der Schwarzen nach Afrika ― eine Einsicht, die auch manchem KKK-Sympathisanten als logisch erscheinen wird.

Omali Yeshitela (bereits ausgezeichnet) gibt dem Antiglobal-TV der ABR ein Interview.[26]

Nach Yeshitela sprach Fedor Birjukow. Seine Rede machte wohl den aufmunterndsten Eindruck auf die Versammlung (selbst Ionow wurde dadurch von seinem Smartphone abgelenkt). Auf den Inhalt der Rede werden wir gleich im Detail eingehen, doch zunächst wollen wir einige wichtige Bemerkungen zur Person Birjukows machen.

Fedor Birjukow ist eine der leitenden Persönlichkeiten der Kreml-nahen nationalistischen Partei „Rodina“ (Heimat). Nur vier Monate vor der „Separatistenkonferenz“ wurde in Sankt-Petersburg das berüchtigte „Konservative Forum“ abgehalten. Dieses Forum versammelte mehrere rechte, z.T. rechtsextreme Organisationen, überwiegend aus Westeuropa.[27] Die Rodina-Partei von Birjukow gehörte zu den Hauptveranstaltern. Das deutschsprachige Publikum wird sich in diesem Zusammenhang vielleicht an die geniale Äußerung erinnern, Udo Voigt aus der NPD wäre ein Antifaschist.[28]

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Alexej Schurawlew, Vorsitzender der Rodina-Partei, twittert eine schockierende Nachricht: „Europarlament-Abgeordneter Udo Voigt ist auch Antifaschist!“ (auf dem getwitterten Selfie Udo Voigt links, Fedor Birjukow rechts).

Des Weiteren besitzt Birjukow eine höchst interessante Biographie. In den Neunzigern war er eine Kultfigur in der russischen rechtsextremen Szene. Bekannt unter dem Künstlernamen „Fedor Wolkow“ (etwa „Wolfssohn“), spielte er in mehreren rechtsextremen Bands und war Autor eines der populärsten Hits der russischen Skinheads. Der Song heißt „Die Glatzen kommen“ und beinhaltet unter anderem folgende Zeilen (keine literarische, sondern möglichst wortwörtliche Übersetzung):

Es gibt Faschisten in Italien, es gibt sie in Deutschland.
Früher bekam man Auszeichnungen, es war eine Ehre,
Einen Faschisten zu töten. Doch die Zeiten änderten sich,
Russland hat sich geändert, das Land hat sich geändert.

Es gibt viele Kaukasier; der Schwarze[29] hat seinen Kopf erhoben.
Doch für die Straße, für die Mädels in den Diskos
Gegen die Schwarzen und Türken, für das russische Volk
Hat nicht der Bulle, nicht der Kriminelle, nicht der Bürgemeister
Sondern der Patriot angefangen zu kämpfen.

Der einfache Straßenjunge, der Faschistenbursche kämpft.
Die Glatzen vereinigten sich, um die Stunde X zu nähern.
Keine Erbarmung den bösen Teufeln.
Ja, für die Russische Ordnung – Ja, für unsere Menschen![30]

Es sei hier daran erinnert, dass die neonazistische Gewalt in den Neunzigern und Nullerjahren in keinem anderen europäischen Land dermaßen mörderische Ausmaße annahm, wie in Russland. Vergleicht man die Statistik des russischen Menschenrechtszentrums „Sowa“ mit anderen zuverlässigen Quellen für europäische Länder, so liegt die Zahl der Todesopfer rassistisch motivierter Gewalt in Russland für den Zeitraum 2006-2013 deutlich höher als die gesamte Zahl derselben in allen übrigen Ländern Europas (die Ukraine miteingeschlossen).[31]

Seit Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine hat diese Zahl in Russland stark abgenommen.[32] Dieses Phänomen erklärt sich allerdings nicht dadurch, dass Russland irgendwie plötzlich „antifaschistischer“ geworden wäre, sondern eher dadurch, dass viele gewaltbereite russische Neonazis in die Ukraine gingen. Im Zeitraum 2014-2016 lag die Gesamtzahl der Menschen, die durch russische Neonazis umgebracht wurden, womöglich deutlich höher als im Vergleichszeitraum 2011-2013. Nur dass die meisten der Opfer nicht „fremd“ aussehende Menschen in Russland waren, sondern die angeblichen „slawischen Brüder“ – getötet auf dem Territorium der Ukraine.

Soweit man anhand offener Quellen beurteilen kann, hat Birjukow seine früheren Aktivitäten niemals bereut. Mehr noch: Er leitet eine nationalistische Partei, die keine Berührungsängste mit Größen wie der griechischen Goldenen Morgenröte, der ungarischen Jobbik oder auch der deutschen NDP hat.

Man könnte sich fragen, wie es möglich ist, dass jemand wie Birjukow kein Problem damit hat, bei einer sich „links“ gerierenden Veranstaltung aufzutreten – und zwar gleich nach dem schwarzen (zumindest dem eigenen Verständnis nach) Antirassisten Omali Yeshitela.

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Da es sich nicht um eine Frage wissenschaftlicher Logik, sondern um eine der politischen Einstellung handelt, kann dies nur von einem anderen politischen Standpunkt gesehen als „widersprüchlich“ aufgefasst werden.

Denn an sich ist die Querfront kein Widerspruch. Rechte und Linke sind dabei durch gemeinsame Feindbilder vereinigt: die Vereinigten Staaten, Israel, Europäische Union, NATO, sowie die geldgierigen Strippenzieher, die ihre Herrschaft über die Welt durch die immensen Lügen und Machenschaften absichern.

Die Liste der gemeinsamen Feinde kann verlängert werden – doch man sollte dabei vor allem auf einen wichtigen gemeinsamen Nenner achten, der die rechten und linken Kräfte bei jedem beliebigen Querfrontauswuchs vereinigt: nämlich eine anti-liberale Grundeinstellung, eine grundsätzliche Infragestellung der demokratischen Ordnung.

In dieser Hinsicht ist die politische Rechte leichter einzuordnen als die „Linke“. Letzteres ist ohnehin nur ein Name, welcher des Öfteren zu einer pauschalen Zusammenfassung von Phänomenen dient, die von einer fortschrittlichen sozialdemokratischen Regierung im Schweden der 1970 Jahre bis hin zu den Abgründen des Stalinismus reichen können.

Eine gründliche Abhandlung der einfachen Frage was eigentlich „links“ sei, wird uns hier zu weit vom ursprünglichen Thema führen und wird vom Autor an einer anderen Stelle behandelt. An dieser Stelle sei nur angemerkt, dass die Linke als ein historisches Phänomen, als etwas von Menschen Gemachtes und in diesem Sinne Veränderbares ― etwas in der politischen Praxis Umkämpftes ― gar keine nicht wegzudenkenden Wesenszüge aufweist.

Ein „rigid designator“ ist in diesem Sinne nur der Name selbst, doch seine Bedeutungen sind in der Geschichte wandelbar. Auch für die Zukunft gibt es keine eingebaute Garantie dafür, dass eine „linke“ Herrschaft nicht zu einer rechten Diktatur― zwar mit verstaatlichen Produktionsmitteln, aber auch mit Massenrepressionen auf Grund ethnischer oder sonstiger Kriterien ― abgleiten kann (wozu beispielsweise die UdSSR unter Stalin tatsächlich ausartete).

Polemisch ausgedrückt, der einzige nicht wegzudenkende Wesenszug der Linken besteht darin, dass sie nie von einer Tendenz zur Querfront abgesichert ist. In diesem Sinne ist das Einzige, was die Linke von der Querfront absichern kann, die Linke selbst. Genauer gesagt, die Menschen in einer konkreten historischen Situation angesichts konkreter Herausforderungen ― angesichts der nackten Tatsache, dass das „Linkssein“ eine politische Praxis ist, die sich auf keinen Wesenskern berufen kann.

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Fedor Birjukow, und Alexandr Ionow bei einer Talkshow: Wenn es gegen die USA geht, kann ein russischer Nationalist auch mal ein antirassistisches T-Shirt tragen.

Birjukow sprach am meisten von „Vampiren“ bzw. von „Vampiren aus Washington“. Seine Rede ist so symptomatisch, dass wir aus ihr ganze Abschnitte zitieren möchten:

„Die Pax Americana organisierte ein globales KZ und zwingt jedem Volk, jedem Menschen, auf, wie er zu leben hat, was er denken soll, wohin er fahren und wie er sterben muss. Die Antiglobalistische Bewegung [Russlands] arbeitet erfolgreich mit den linken Bewegungen aus unterschiedlichen Ländern zusammen. Unsere Rodina-Partei versucht Kontakte zu den konservativen Bewegungen aufzubauen. Auf diese Weise versuchen wir in Russland die ganze Welt in freundliche Umarmung zu schließen, von rechts und links“.

Danach rügte er die „Washingtoner Diktatur“ und fuhr weiter fort:

„Jeder von uns, jeder von Anwesenden kämpft für seine Heimat so, wie er sie geerbt hat, so, wie er sie sehen will. Die Heimat bedeutet vor allem Souveränität. Heutzutage zeigt Russland ein erfolgreiches Beispiel der Verteidigung eigener Souveränität. Russland schaffte es, sich vom amerikanischen Geist zu befreien.

Wir schafften es, unsere Souveränität wiederherzustellen, unseren patriotischen Geist zu erneuern, der es erlaubte, unserem ureigenen Land, der Krim, nach Russland zurückzukehren.[33]

Laut der russischen Kosmogonie ist der Westen ein Ort, wo die Sonne untergeht, ein Ort des Untergangs. Für die ganze Welt ist der Westen eine Zone der Dämmerung, eine Zone, wo die Wärme verschwindet, wo die lebensfördernden Sonnenstrahlen verschwinden, wo die Nacht der Vampire beginnt.

Und diese Administration in Washington, die versucht, in jedes unserer Häuser einzudringen, in jedes unserer Betten, in jedes unserer Gehirne – diese konsolidierte Bande von Vampiren, die unser Blut saugt, unsere Ressourcen – die versucht, uns der Zukunft zu berauben.

Und ich würde sagen, dass jeder Mensch, der damit nicht einverstanden ist, jeder, der sich nach der Sonne und nicht dem blutigen Mond sehnen will, jeder, der für seine Heimat kämpft- dem Geiste nach ein Russe ist“.

Danach rief Birjukow zur Eröffnung einer weltweiten Front des Widerstandes gegen die „Washingtoner Vampire“ auf, weil sonst:

„Sonst wird es ein globales KZ geben, in dem es nur ein kleines Zimmer mit einem Bett für die gleichgeschlechtliche Liebe geben wird. Mehr werden wir von der Washingtoner Zentrale nicht bekommen. Das ist auch keine politische Frage – in vielerlei Hinsicht ist es eine Frage der Anthropologie, eine Frage des Überlebenskampfes zwischen den Menschen und den Washingtoner Vampiren, die versuchen, das Blut aus der gesamten Menschheit, aus dem gesamten Erdball herauszusaugen.

Alle Menschen guten Willens sollten einen Holzpfahl hoch über dem Kopf erheben, der früher oder später das Herz der amerikanischen Vampire treffen wird. Für die Souveränität, für eine Welt der Völker und Nationen!“

Fedor Birjukow fordert einen Pflock für das Herz der Washingtoner Vampire.

Insgesamt war Birjukows Rede voll schöner Bilder und Metaphern. Vielleicht am Interessantesten war jedoch seine Aussage, die Rodina-Partei gehöre zu den Veranstaltern der Separatisten-Konferenz. Ob das stimmt, können wir weder bestätigen, noch bestreiten.

Wenn das wirklich der Fall ist, dann war diese Information sicherlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt und rutschte dem vom hohen Pathos befallenen Redner bloß aus Versehen heraus.

Anzumerken ist, dass Birjukow und Ionow offenbar gute Beziehungen pflegen. Sie sind mehrmals im Tandem bei russischen Talkshows aufgetreten und gehören beide zum „Sozial-Patriotischen Klub »Stalingrad«“. Die ABR, welche allem Anschein nach keine weiteren Mitglieder außer dem „Präsidenten“ Ionow und einer Mitarbeiterin im Studentenalter besitzt, hat schlicht und einfach keine Kapazitäten, um Veranstaltungen wie die Separatistenkonferenz selbständig zu organisieren.

Auch wenn es von keiner offiziellen Quelle bestätigt wird, gehört die Strategie des „Umarmens“ von Links und Rechts offenbar zu einem der Grundsteine der hybriden Außenpolitik des Kremls. Deutlich wird das an Umständen wie dem Umgang mit den Protesten gegen das sogenannte „Konservative Forum“ in Sankt-Petersburg – während laut offizieller Quellen der Kreml nichts mit der Durchführung des Forums zu tun hatte, wurden die Gegendemonstranten gleichzeitig von der Polizei vertrieben.

Die folgenden Bilder sollen auch veranschaulichen, dass es in Russland nicht nur den offiziösen rechtsoffenen „Antifaschismus“, sondern auch einen echten – wenn auch schwachen und unterdrückten – Antifaschismus, sowie eine unverfälschte Friedensbewegung gibt.

Die Polizei verhaftet Trommlerinnen, die gegen das Konservative Forum protestieren (Sankt-Petersburg, 22. März 2015)
Auf dem Banner: “Nazis lecken Putins Po“ (Sankt-Petersburg, 22. März 2015)
Auf dem Plakat: “Nicht in der Ukraine sind Faschisten – sie tagen hier!“ (Sankt-Petersburg, 22. März 2015)

Nach Birjukow sprach ein russischer Nationalist aus der südukrainischen Zaporischa, Vladimir Rogow. Früher gehörte Rogow der Organisation „Slawische Garde“ an, jetzt vertritt er die „Volksfront für die Befreiung der Ukraine“.

In seiner Rede behauptete er, dass Russen keine Nationalität, sondern eine „zivilisatorische Wahl“ darstellen. Rogow vertrete „Neurussland, den jüngsten unserer Staaten, der jetzt in den Wirren des post-ukrainischen Raums entsteht“. Der heutige ukrainische Staat sei illegitim und befände sich unter fremder Herrschaft. Der „Wille des ukrainischen Volkes“ bestehe Rogow zufolge darin, sich dieser Herrschaft zu entledigen. Die ersten Staaten, die sich im „post-ukrainischen Raum“ Unabhängigkeit erkämpft hätten, seien die DVR und die LVR. In den „Volksrepubliken“ gehöre die Macht dem Volke und werde durch direkte Demokratie und Referenden ausgeübt. Dagegen sei Kosovo kein echter, sondern ein Quasistaat, welcher von den Streitkräften der USA erzwungen wurde. Die USA verwandelten Kosovo in eine Militärbasis.

Die aktuelle Flüchtlingskrise erklärt Rogow durch die Vernichtung der souveränen Staaten, vor allem seitens der USA und Großbritannien. Schließlich lobt Rogow den britischen Sozialisten Jeremy Corbyn dafür, dass er Nordirland in die Freiheit entlassen will.

„Nationaler Befreiungskampf“ kann auch bedeuten, dass es zweitrangig ist, von wem welche „Hilfe“ angenommen wird (ein Stück Wandmalerei in Nordirland). Als ein Vertreter von Sinn Féin während der Separatisten-Konferenz von einem Journalisten mit der Frage konfrontiert wurde, ob es ihm wirklich egal wäre, von wem man durch die Einladung nach Moskau unterstützt werde, erwiderte er in dem Sinne, dass seine Organisation auch kein Problem damit hatte, von Gadaffi Hilfe zu empfangen und fügte hinzu: „Wenn du für die nationale Unabhängigkeit kämpfst, spielt für dich die Biographie der Geldgeber keine Rolle“.[34]

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In diesem Zusammenhang lohnt es sich auf einen Aspekt einzugehen, der zu vielen Missverständnissen geführt hat: Und zwar führen linke, wie rechte Anhänger des russischen Imperialismus gerne Menschen wie Rogow ― der tatsächlich nicht aus Russland, sondern aus der südukrainischen Saporischja stammt ― als Vertreter einer ihrem Weltbild entsprechenden, „authentischen“ Ukraine ins Felde.

Selbstverständlich gibt es in der Ukraine russische Nationalisten. Sie können „ethnische Russen“ oder, wenn auch seltener, „ethnische Ukrainer“ sein. Von einem wertneutralen Standpunkt gesehen sind sie weder besser noch schlechter als ihre Mitbürger, die ihre politische Sicht nicht teilen.

Jede Analogie hinkt und kann strenggenommen nicht als ein Beweis dienen. Dennoch kann sie unter Umständen als prägende Veranschaulichung taugen. Sich zu wundern, warum es in der Ukraine Menschen mit pro-russischen Einstellungen gibt, ist dasselbe, wie wenn man sich wundern würde, warum es in Slowenien noch vor dem Zweiten Weltkrieg viele deutsche Nationalisten gab, oder wieso noch im 19. Jahrhundert in Tschechien viele gebürtige tschechische Muttersprachler im Laufe ihres Lebens ins Deutsche wechselten.

Um die genauere Behandlung anderer historischer Aspekte auszusparen, wird es in diesem Zusammenhang vielleicht genügen, anzumerken, dass nirgendwo in der Ukraine russischer Nationalismus von der Mehrheit der Bevölkerung befürwortet wurde. Nicht einmal auf der Krim oder im Donbas trat die Mehrheit der Bevölkerung für den Anschluss weder der Region noch des gesamten Landes an Russland auf (eigentlich nahm die Zahl derjenigen, die eine regionale Autonomie befürworteten, im Donbas während der Janukowitsch-Jahre rasant ab und belief sich vor dem Ausbruch des Krieges auf sage und schreibe auf fünf Prozent der Donbas-Bewohner*innen).

Es braucht schon gewaltige ideologische Scheuklappen, um die Meinung dieser extremen Minderheit der ukrainischen Staatsbürger als eine „bessere“ oder „authentischere“ als die der Mehrheit der Ukrainer*innen einzustufen. Oder noch präziser gesagt, es setzt die Befürwortung des russischen Nationalismus imperialer Prägung mit seinen Implikationen voraus, wie Gebietsansprüche, Leugnung der Existenz der ukrainischen Sprache oder des Rechtes der Ukrainer*innen auf einen eigenen Staat.

———

Saporisha, 13. April 2014: „Russische Welt“ be-eiert, „Volksrepublik Saporischja“ gescheitert. Die Anzahl der Anhänger einer unabhängigen Ukraine in dieser etwas südlich liegenden russischsprachigen Stadt war bei den Ereignissen deutlich größer. Per Abmachung hatten die „Separatisten“-Gegner Eier mitgebracht. Auch Artem Scharlai, der während der Separatisten-Konferenz hinter Rogow saß, durfte davon kosten (in der Mitte, hält den linken Arm hoch). Die überwiegende Mehrheit der Eierwerfer war aus Saporischja selbst und sprach Russisch. Vermutlich hatten viele von ihnen Familiennamen mit der für ethnische Russen typischen „-ow“ Endung ― genauso wie Wladimir Rogow, aber auch wie der Leiter des ukrainischen Sicherheitsrates Turtschinow, der ukrainische Innenminister Awakow, oder auch der Gründer des radikalen ukrainischen Nationalismus Dmytro Donzow zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Die Demonstration für die Einigkeit der Ukraine am 5. März 2014 in Donezk.
Mehfrach entweiht: Ein Wandgemälde mit Putin in Jalta (Krim, unsere Zeit).

Der letzte Sprecher auf den uns zugänglichen Mitschnitten war Georgij Fjedorow, Mitglied des „Gesellschaftsrates der Russischen Föderation“. Der letztere ist ein vom Staat unterstütztes beratendes Organ, welcher für die Vermittlung zwischen dem Staat und der Zivilgesellschaft verantwortlich sein soll.

Fjedorow ist ein gutes Beispiel eines systemkonformen russischen „Linken“: In seinem persönlichen Blog beglückwünscht er die Menschen zum „Tag des Tschekisten“ und bezeichnet die Auflösung der UdSSR als „Verbrechen“.[35] Seine Rede auf der Separatisten-Konferenz zeigt, wie gut ein Putinscher Funktionär auch mit „linker“ Rhetorik hantieren kann. Die USA sind Fjedorow zufolge ein riesiger Polizist, genauer gesagt ein Hooligan, welcher zusammen mit England, dem Hirnzentrum des weltweiten Hooliganismus, den Willen des globalen Kapitals, der globalen Megakorporationen umsetzt.

Fjedorow ist deswegen gegen die Globalisierung, weil er Diktaturen nicht mag. Um das zu erläutern, versuchte Fjedorow sich einer Begrifflichkeit zu bedienen, die ihm einige Schwierigkeiten bereitete: „Jetzt sind wir mit dem Neokanalinasmus, Kanali…, Kanala…, also, mit dem Neoimperialismus konfrontiert, mit dieser fürchterlichen Erscheinung“.

Um die immensen Profite einzukassieren ― so Fjedorow ― bräuchten die Megakorporationen keine Staaten, sie wollen die Grenzen verwischen, damit die Regierungen diese Megakorporationen bedienen. Diese Megakorporationen säubern den Weltmarkt, damit die ganze Welt dasselbe Gebrause trinke, dieselbe Schokolade esse, dieselben Güter konsumierte, damit die Megakorporationen die Oberhand behielten und Überprofite kassierten.

De facto herrsche die unipolare Welt schon jetzt. Die USA verhielten sich brutal im Nahen Osten. Die Medien ständen unter der Kontrolle der USA und der Megakorporationen. Die USA würden säkulare sozialistische Staaten im Nahen Osten vernichten. Sie würden das deswegen machen, weil Mittelalter-Menschen sich besser regieren lassen würden. Zum Schluss meinte Fjedorow, Russland solle nationale Befreiungsbewegungen auf der ganzen Welt unterstützen.

Anzumerken ist, dass Fjedorows Linksgetue ihn nicht daran hinderte, bei den Wahlen in den Moskauer Stadtrat als Kandidat einer extrem-nationalistischen Partei anzutreten.[36]

Soviel zu den Inhalten der ersten Separatistenkonferenz, die im September 2015 stattfand. Die Reden haben wir nicht extra herausgepickt, sondern gaben all das wieder, was von den Veranstaltern auf YouTube veröffentlicht wurde.

 

Anstatt eines Schlusswortes: Russischer Imperialismus als blinder Fleck

Haben Sie jemals von der Tschuwaschischen Sprache gehört? Wissen Sie viel von den Tschuwaschen, von ihrer Geschichte, ihren Liedern, ihrer Literatur? Wie viele Leser*innen werden überhaupt Tschuwaschien auf einer Weltkarte finden, ohne eine Internetsuchmaschine in Anspruch zu nehmen? Vermutlich nicht viele.

Auch der Autor dieses Artikels will nicht den falschen Eindruck erwecken, er hätte sich da bestens ausgekannt. Aber in meinem Leben gab es eine viel schönere Periode, als ich noch Zeit für die Lektüre poetischer Werke fand – dagegen keine einzige Sekunde dem Studium von Internetauftritten von Neonazis, Querfrontlern und Imperiumsnostalgikern widmete.

Es erklärt sich vielleicht eher durch mangelnde Kenntnisse anderer Sprachen als durch eine Bevorzugung der russischen Literatur – aber keine andere Dichtung prägte mich so sehr wie die russischsprachige. Einer dieser Poeten hieß Gennadi Aigi. Ursprünglich schrieb Aigi auf Tschuwaschisch und wechselte erst später ins Russische. Seine Gedichte auf Tschuwaschisch kenne ich nur in seiner eigenen Übersetzung ins Russische. Auch in der Übersetzung sind sie beeindruckend und einzigartig.

Man kann darüber streiten, ob mit dem Sprachwechsel bei Aigi etwas Wichtiges verloren ging, oder umgekehrt etwas Neues entstand. Vielleicht stimmt einfach beides. Auf jeden Fall macht es keinen Sinn Aigi dafür zu verurteilen, oder zu loben. Falls er weiter nur auf Tschuwaschisch geschrieben hätte, hätte er vielleicht nur ein paar Dutzend Leser*innen weltweit. Womöglich hätten wir nie von ihm erfahren und sein Werk wäre noch Jahrzehnte vor seinem physischen Tod dem Schweigen anheim gefallen.

Tschuwaschisch ist nur eine von Dutzenden finno-ugrischen Sprachen, die ursprünglich einen Raum umfassten, der größer war als der Verbreitungsraum der slawischen oder germanischen Sprachen. Nur drei finno-ugrische Völker besitzen heute Staatlichkeit: Ungarn, Estland und Finnland. Die meisten dieser Sprachen sind bereits verschwunden oder sterben gerade. Das Areal der Verbreitung dieser Sprachen befindet bzw. befand sich überwiegend auf dem Territorium der Russischen Föderation.

Wie schnell die Assimilierungspolitik in Russland vorangetrieben wurde, kann man an folgenden Zahlen ablesen: Alleine zwischen 1932 und 1959 verloren über 70 Völkerschaften in den UdSSR ihren offiziell anerkannten Status.[37] Die überwiegende Mehrheit dieser Völkerschaften waren finno-ugrische Völker oder „geschichtslose“ Völker Sibiriens.

Den Umgang mit den ethnischen Minderheiten im heutigen Russland erkennt man daran, dass auf dem Höhepunkt der frühsowjetischen „Nationalisierungspolitik“ in der Mehrheit der Schulen in der russischen Region Kuban auf Ukrainisch unterrichtet wurde – heute aber den Millionen in Russland lebenden Ukrainer*innen keine einzige ukrainische Schule mehr zur Verfügung steht. Die Leiterin der einzigen ukrainischen Bibliothek in Russland wurde 2015 verhaftet und befindet sich bis jetzt unter Hausarrest,[38] die Kulturvereine der Ukrainer*innen werden verfolgt.

Der Umgang mit der ukrainischen Minderheit ist nur ein Beispiel. Wie im Fall der Unterdrückung und Verfolgung vieler weiterer „bedeutungsloser“ Völkerschaften in der russischen Föderation, erwecken diese nur wenig Mitleid und Solidarität seitens der westlichen Zivilgesellschaft, was insbesondere auf ihren linken Teil zutrifft.

Mehr noch: Die ihrem Selbstverständnis nach fortschrittliche Rosa-Luxemburg-Stiftung ist sogar bereit, den chauvinistischen Hetzern eine Plattform zu bieten.[39] Von den übrigen „antifaschistischen“, „antiimperialistischen“ und „friedensbewegten“ Zusammenhängen, für welche das Verständnis für das großrussische Ressentiment geradezu programmatisch ist, mal ganz zu schweigen.

Vergleicht man die „antiimperialistischen“ Positionen westlicher Linker gegenüber den USA oder den ehemaligen Kolonialenmächten Westeuropas mit denjenigen zu Russland, so sticht eine überdimensionale Diskrepanz ins Auge.

Diese Voreingenommenheit beschränkt sich aber wohl nicht nur auf die Linke, sondern gehört zum vererbten und verbreiteten kulturellen Allgemeingut: Ohne großes Nachdenken wird vermutlich mehr als die Hälfte deutscher Erwachsener ein halbes Dutzend indigener Völkerschaften auf dem Territorium heutiger Vereinigten Staaten nennen können – auch wenn nicht jeder das Jahr der „Entdeckung Amerikas“ oder die Namen der spanischen Konquistadoren nennen wird, so ist zumindest die Brutalität der europäischen Kolonisatoren auf dem „entdeckten“ Kontinent für die meisten Menschen im Westen ein Begriff.

Unter den Völkern, die heute zur Russischen Föderation gehören und seinerzeit dem russischen Imperialismus Widerstand leisteten, wird man außer Tschetschenen vermutlich nicht viele nennen können. Dabei fallen die meisten territorialen Eroberungen Russlands in die Neuzeit, sehr viele von diesen sind von unserer Zeit nicht weit entfernt: So wurde der erste russische Feldzug nach Sibirien erst 60 Jahre nach der Landung spanischer Konquistadoren in Mexico unternommen. Den Nordkaukasus eroberte Russland erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Die Eroberung des Nordkaukasus hinterließ zumindest in der russischen Kultur eine Spur, die einerseits durch das Aufblühen der russischen Literatur bedingt zu sein scheint ― insbesondere Dank des Einflusses der europäischen Romantik mit ihrer Faszination für das „Exotische“ und „Rebellische“ ―, und andererseits durch die hohe Zahl der Opfer (auch unter dem „adligen“ Teil der Bevölkerung), welche dieser brutale und Jahrzehnte lang dauernde Krieg auch auf der russischen Seite forderte.

Im Falle vieler anderer namen- und „geschichtsloser“ Völker ist dagegen eine ziemlich große Kluft erkennbar, die verdeckt wird durch den Diskurs der Machthaber, der Schulbücher, der offiziellen Gedenkveranstaltungen, oder -zusammengenommen- durch ein verklärendes und verfälschtes Narrativ von „freiwilligen Anschlüssen“ unterschiedlicher Völkerschaften und Territorien an Russland.

Aus den Zeiten der Eroberung des Nordkaukasus stammt eines der populärsten Symbole des russischen Imperialismus, die sogenannte Baklanow-Fahne. Auf dem Bild: Einer der brutalsten „Eroberer des Kaukasus“, General Baklanow, und die nach ihm benannte Fahne.

Zu Gast beim Faschisten Mosgowoi: Die linke Band „Banda Bassotti“ posiert unter der Baklanow-Fahne (oben auf der Wand).

Wohl keine andere Form der Folklore war in der späten sowjetischen und frühen postsowjetischen Periode so entwickelt, verbreitet und komplex, wie die der Witzkultur – soweit der Autor das beurteilen kann, kannte zumindest Westdeutschland kein ähnliches Phänomen, wie es in Russland anscheinend durch die Erkämpfung politischer Freiheiten in den Neunzigern und die Verbreitung des Internets in den Nullerjahren an Bedeutung verlor.

Einer der beliebtesten Charaktere russischer Witze war Tschuktscha, der ständig von einem Russen betrogen wird oder seine Schlichtheit im Umgang mit den Errungenschaften der Zivilisation an den Tag legt. Neben Dummheit und Einfältigkeit ist die Ungefährlichkeit, die Unfähigkeit, elementarsten Widerstand zu leisten, einer der charakteristischen Züge dieser Figur. In den russischen Witzen kann man mit Tschuktscha alles anstellen – und am Ende wird er sich dafür noch bedanken.

Tschukotka ist der nördlichste Teil Sibiriens und liegt weit im Osten. Das Land ist etwa doppelt so groß wie die Bundesrepublik Deutschland. Dank der Geschichte des Vaterlandes, wie sie im Schulprogramm konzipiert ist, werden vermutlich die meisten Russen sich wundern, wenn sie erfahren, dass das Zarentum Jahrzehnte für die Eroberung Tschukotkas brauchte – dass die Eroberung mehrere militärische Expeditionen in Anspruch nahm, dass die Tschuktschen imstande waren, tausende von Kämpfern aufzustellen, und dass es sich dabei um einen richtigen Eroberungskrieg mit mehreren blutigen Schlachten handelte.

Auch im Westen wissen nur wenige etwas von der Geschichte des Widerstandes indigener Völker Sibiriens gegen den russischen Imperialismus. Während Namen wie Leonard Peltier oder Standing Rock für viele progressive Menschen im Westen ein Begriff sind, werden die meisten von ihnen von einem Rodion Suljandziga oder von Numto vermutlich noch nie etwas gehört haben. Dabei sind die kolonialen Beziehungen innerhalb Russland auch heute noch keine Vergangenheit: Während das meiste russische Öl, Gas, Gold und Diamanten aus Sibirien stammen, landet der Löwenanteil des Erlöses des internationalen Handels mit diesen in Moskau.

Auf der immer noch weit verbreiteten Verwechslung der UdSSR und Russland fußt die Glorifizierung des Landes als eines Siegers über den Faschismus. So wichtig der Beitrag der UdSSR (nicht nur „Russlands“) zur Niederlage des Dritten Reiches ist, so sehr kann diese Glorifizierung zu einer Verblendung führen, wenn es um die Periode der Zusammenarbeit zwischen Nazi-Deutschland und der Sowjetunion geht.

Abgesehen vom „Russlandfeldzug“ fallen nämlich die meisten Eroberungen des Dritten Reiches in Europa eben auf die Jahre der Gültigkeit des Molotow-Ribbentrop Paktes. Mehr noch: Eine kritiklose Glorifizierung blendet aus, dass die UdSSR zwischen 1939 und 1940 insgesamt sechs unabhängige Staaten von Finnland bis Rumänien überfiel bzw. deren Teile annektierte. Finnland verlor dabei an die Sowjetunion circa zehn Prozent seines Territoriums. Dieser Landgewinn des damaligen Hitler-Verbündeten gehört heute zur Russischen Föderation.

Querfront-„Antiimperialismus“ ist nicht neu. Ein sowjetisches Plakat aus dem Jahr 1940: „London. Die Brudervölker haben sich über einer feindlichen Stadt zum Treffen verabredet. Bei jedem Händedruck erzittert das imperiale Britannien.“

Der Endsieg des „Antifaschismus“, wie er heute von Antiliberalen unterschiedlicher Couleur halluziniert wird: Die Mutter Heimat von Stalingrad köpft die Freiheitsstatue von New York (entnommen einem russisch-patriotischen Internetauftritt).

Während die westeuropäische koloniale Herrschaft bereits am Ende des Zweiten Weltkrieges ins Schwanken geriet, gewann die Russische Föderation neue Territorien. Dazu gehört beispielsweise Tiwa, das erst 1944 ein Teil der Russischen Föderation wurde.

Von diesem Land wird die Mehrheit der Leser*innen vermutlich nicht viel gehört haben. Anzumerken ist, dass Tiwa vom seinem Territorium her etwa die Hälfte der heutigen Bundesrepublik Deutschland ausmacht. Die Entfernung zwischen Moskau und Tiwa ist vergleichbar mit derjenigen zwischen Deutschland und Kamerun. Sprachlich gesehen ist das Russische viel mehr mit dem Englischen als mit dem Tiwinischen verwandt. Selbst ihrem Aussehen nach unterscheiden sich die Tiwiner*innen von den „echten Russen“ so, dass in den Städten wie Moskau oder Sankt-Petersburg sie allein auf Grund ihres Aussehens zu Opfern neonazistischer Gewalt werden können.[40]

Sobald die besagte Glorifizierung ein gewisses Maß an Kritiklosigkeit überschreitet, blendet sie des Weiteren aus, dass viele „kleine“, „geschichtslose“ Völker der Russischen Föderation erst gegen Ende des Zweiten Weltkrieges zu den Opfern der mörderischen Deportationen wurden.

Viele „Russlandversteher“ führen gerne das Argument ins Feld, dass die Krim erst 1954 ein Teil der ukrainischen Sowjetrepublik wurde (und vergessen dabei zu erwähnen, was der autochtonen Bevölkerung der Halbinsel zehn Jahre davor widerfuhr).

Dagegen sind sich nur wenige dessen bewusst, dass Karelien ― ein fast doppelt so großes Land im Vergleich mit der BRD ― erst 1956 ein Teil der Russischen Föderation wurde. Davor hatte das Land den Status einer Unionsrepublik und hätte 1991 genauso wie die Ukraine oder die Baltischen Staaten die Sowjetunion verlassen können (falls die Karelische Republik dieses Rechtes vor 35 Jahren nicht beraubt wäre).

Es handelt sich hierbei um kleine punktuelle Einblicke in die Geschichte des russischen Imperialismus – eine gründliche Behandlung desselben würde ein dickes Buch in Anspruch nehmen. Uns geht es in erster Linie um den Nachweis einer schreienden Diskrepanz zwischen den Einstellungen vieler ihrem eigenen Verständnis nach progressiver Menschen im Westen. Nicht nur ist der russische Imperialismus für viele ansonsten kritische Menschen kein Thema ―, noch schlimmer ist, dass viele von ihnen sogar bereit sind, denselben zu rechtfertigen. Die Rechtfertigungen können zwar unterschiedliche Formen annehmen, aber im Endeffekt läuft es auf dasselbe hinaus: Ein nach wie vor großes und mörderisches Imperium ist für sie immer noch viel zu klein.

Zu betonen ist nur, dass sich dahinter nicht irgendeine irrationale Russlandliebe oder die Wirkung irgendwelcher von der Wissenschaft bis heute nicht restlos erklärten chemisch-geopolitischen Prozessen im Kopf verbirgt, sondern bloß ein schadenfrohes anti-liberales Ressentiment zum Vorschein kommt, das nicht weniger abscheulich ist, wenn es im roten Gewand auftritt.

Wenn beispielsweise Sahra Wagenknecht meint, dass sich eine echte Friedenspolitik darin begründen würde, „alles zu vermeiden, was in Russland als Provokation empfunden werden kann“,[41] muss man bedenken, dass sich die heutige russische Führung durch die Idee einer demokratischen Grundordnung und der Einhaltung von Menschenrechten nicht weniger „provoziert“ und „bedrängt“ fühlt, als durch einen Mangel an Verständnis gegenüber russischen Gebietsansprüchen.

Auch wenn diese Schlussfolgerung vom manchem „radikalen Linken“ als unerhört empfunden wird, liegt eine Infragestellung der demokratischen Grundordnung und alle autoritären Implikationen bereits in der Idee der Revolution, als einer „Verbesserung“, die sich nie im Rahmen der repräsentativen Demokratie, sondern nur gewaltsam und faktisch gegen den Willen der Mehrheit durchsetzen lässt.

Kein Wunder, dass ein Rückblick in die Geschichte des 20. Jahrhunderts nur bestätigt — und wir können uns in der Tat mehrere Fälle einer erfolgreichen linken Revolution auf unterschiedlichen Kontinenten anschauen —, dass so eine „Verbesserung“ nur eine Diktatur zur Folge haben kann. Eine linke Revolution wird auch in Zukunft keine anderen Folgen haben können – die antidemokratischen Voraussetzungen sind bereits in ihrer Idee verankert.

Gerade die Reaktionen auf die sogenannte „Ukraine-Krise“ oder die Abenteuer russischer Streitkräfte in Syrien zeigen deutlich, dass bei all der zum Teil berechtigten Kritik an der repräsentativen Demokratie die radikale/revolutionäre Linke nun wirklich keine bessere Alternative in Petto hat. Der Realitätscheck für ihre utopischen Visionen einer besseren Zukunft, die für rationale Erkenntnis nur wenig zugänglich sind, dafür aber in umso erhabenere, poetische Worte eingekleidet werden, wird nach wie vor nur die autoritäre Wirklichkeit liefern können. Die nüchterne Erkenntnis, die der Autor dieses Artikels neben so vielen anderen Menschen in den letzten drei Jahren machen musste, besteht darin, dass sich in dieser Hinsicht bei der radikalen Linken auch in Zukunft nichts ändern wird.

Eine Vorstellung deutsch-russischer Freundschaft, über welche sich insbesondere Polen, Balten, Belarussen und Ukrainer wieder einmal freuen dürften
(bei einer pro-russischen Demo in Deutschland)

Die alten Träume der neuen Querfront: “Tod den Bakterien, Ruhm den Imperien! Mögen die Parasiten ewig Alpträume von der russisch-germanischen Grenze haben!“ (entnommen der VK-Seite einer im Donbas kämpfenden russisch-nationalistischen Einheit, auf der das Bild mit einem durchaus positiven Bezug gepostet wurde).

Es geht nicht darum, jeder beliebigen separatistischen Bewegung in Russland so etwas wie „bedingungslose Solidarität“ zu schwören. Ein kleiner eigener Nationalstaat für jede Völkerschaft ist sicher nicht der Höhepunkt der menschlichen Emanzipation. Mehr noch: Eine nationale Befreiungsbewegung muss zwar nicht unausweichlich noch weniger progressiv sein, als das, wogegen sie kämpft – kann aber durchaus.

Die wichtigsten Aspekte, die man und frau dabei beachten müssten, wären die folgenden: 1. Wir dürfen nicht für andere entscheiden, und 2. sollte man nach Möglichkeit diejenigen Bewegungen unterstützen, die ihre Ziele gewaltlos umsetzen.

Das heißt, dass wir nicht für, sagen wir, die Bewohner*innen der Tatarischen Republik an der Wolga im Voraus, quasi a priori, „wissen“ dürfen, ob ein eigener Staat für sie etwas Besseres als Verbleib in der Russischen Föderation wäre.

Aber genauso darf man nicht ihren Wunsch verurteilen, falls eine Mehrheit der Bewohner*innen der Republik dafür eintreten wird.

Wichtig ist ein demokratischer Rahmen, der eine legitime und gewaltlose Umsetzung jedes beliebigen Separatismus erlaubt. Also eher eine Option, die für die Bewohner*innen Schottlands in Großbritannien oder für die Bewohner*innen von Quebec in Kanada offensteht, als die Putin’sche Art des Umgangs mit Separatismen im Besonderen und den ethnischen Minderheiten im Allgemeinen. Also eher mehr Demokratie, politische Freiheit und Beachtung von Menschenrechten, als umgekehrt.

Die Lösung des Separatismus-Problems á la Poutine (Grozny, 2000)

Als Alexander Ionow von einem Journalisten gefragt wurde, warum auf seiner Konferenz keine separatistischen Bewegungen aus Russland vertreten seien, antwortete er, dass es in Russland keine separatistische Bewegungen gäbe. In Russland gibt es keine Separatisten, weil wir keine koloniale Vergangenheit haben”, erklärte Ionow und fügte hinzu, dass er sich nur vorstellen könne, dass sich das Territorium von Russland vergrößern werde – nicht aber umgekehrt. Angebliche separatistische Bewegungen” in Russland wären seiner Meinung nach ausschließlich von außen provoziert und stellten streng genommen Fälle von Landesverrat dar.[42]

Höhnisch erscheint an der Separatistenkonferenz auch der Hintergrund: Kurz vor der Krim-Annexion und dem Beginn des „Urlaubs“ russischer Armeeangehöriger im ukrainischen Donbas wurde das russische Strafgesetzbuch um Artikel Nummer 280.1 erweitert. „Öffentliche Aufrufe zu Handlungen, die gegen die territoriale Integrität der Russischen Föderation gerichtet sind“, sind seitdem strafbar. Für ein entsprechendes Posting in sozialen Netzwerken kann man nach diesem Artikel mit einer bis zu fünf Jahre langen Haft bestraft werden.

In den letzten drei Jahren wurde dieser Artikel in mindestens 15 Fällen angewandt.[43] Verurteilt wurden in erster Linie Qirimli (Krimtataren), die öffentlich die Krim-Annexion verurteilten.

Durch Anwendung des Artikels 280.1 wurden auch die Vertreter anderer separatistischer Bewegungen aus unterschiedlichen Regionen Russlands bestraft – sowie Menschen, die die Krim-Annexion oder den Einsatz russischer Streitkräfte im Donbas in sozialen Netzwerken kritisierten. Dabei wird gegen die Kritiker des russischen Ukraine-Krieges auch der „allgemeine“ Extremismus-Artikel 280 aktiv angewandt. Alleine 2015 wurden in Russland auf Grund der Artikel 280 und 280.1 insgesamt 69 Menschen verurteilt.[44]

Viele Russen unterstützen den Krieg gegen die Ukraine nicht: Auf dem „Marsch für Frieden“ (Moskau, 15. März 2014)

Es ist klar, dass eine kritiklose pro-russische Einstellung dringend einer Revision und Reflexion bedarf, insbesondere auf der Linken. Zumindest dann, wenn man unter einem „linken“ Programm keine autoritäre und kriegslustige Einschränkung der Menschenrechte versteht, sondern deren Erweiterung um reale soziale Rechte, deren Förderung und Umsetzung weltweit.

An dieser Stelle möchte sich der Autor beim IWM – Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen herzlich bedanken, bei welchem er im November 2016 die meisten Arbeiten für diesen Artikel durchführen konnte.

Fußnoten

  1. https://meduza.io/feature/2016/09/25/liga-nepriznannyh-natsiy
  2. https://www.jstor.org/stable/173003?seq=1#page_scan_tab_contents
  3. http://forum1.inosmi.ru/world/20150923/230426962.html
  4. http://www.rbc.ru/society/27/09/2016/57ea928a9a79477fe2f71545; https://www.youtube.com/watch?v=tKnAPYv4xM8.
  5. https://meduza.io/feature/2016/09/25/liga-nepriznannyh-natsiy
  6. http://anti-global.ru/?page_id=4493
  7. http://anti-global.ru/?page_id=12595
  8. http://forum1.inosmi.ru/world/20150923/230426962.html
  9. http://www.n24.de/n24/Nachrichten/Politik/d/9190460/moskau-laedt-zum-weltgipfel-der-anti-globalisten.html
  10. http://theins.ru/politika/31433
  11. http://theins.ru/politika/31433
  12. https://meduza.io/feature/2016/09/27/ofitsery-rossii-kto-oni-takie
  13. http://www.rbc.ru/politics/21/09/2015/55ffcb089a7947a5cfbcc9a8
  14. http://forum1.inosmi.ru/world/20150923/230426962.html; http://www.rbc.ru/politics/21/09/2015/55ffcb089a7947a5cfbcc9a8
  15. https://linksunten.indymedia.org/en/node/179553
  16. https://www.youtube.com/watch?v=wZZz3ZudihE
  17. http://censor.net.ua/photo_news/260052/luganchane_poblagodarili_putina_za_mir_eto_polnyyi_pidets_foto
  18. https://www.jungewelt.de/2016/12-16/007.php; http://morningstaronline.co.uk/a-6e18-Morning-Star-statement-on-the-situation-in-Aleppo#.WG24UxvhDIX.
  19. https://www.jungewelt.de/2016/09-30/037.php
  20. https://deutsch.rt.com/inland/43953-grosse-rt-interview-mit-sahra/
  21. https://www.facebook.com/WolfgangGehrckeOfficial/posts/236412270114416?pnref=story
  22. https://soundcloud.com/sputnik-de/dehm-zu-fluchtlings-rettung-er-fallt-der-allgemeinheit-nicht-auf-die-tasche
  23. https://www.facebook.com/gregor.gysi/posts/10153801754222693?pnref=story; http://www.deutschlandfunk.de/linksfraktion-ueber-das-bueroversehen-sind-wir-sehr-dankbar.694.de.html?dram%3Aarticle_id=363439
  24. http://www.faz.net/aktuell/politik/fluechtlingskrise/russland-versagt-fluechtlingen-aus-syrien-asyl-14562239.html
  25. http://publications.credit-suisse.com/tasks/render/file/index.cfm?fileid=AD6F2B43-B17B-345E-E20A1A254A3E24A5.
  26. https://www.youtube.com/watch?v=irZeaqniZ7Y
  27. https://linksunten.indymedia.org/en/node/138661
  28. https://linksunten.indymedia.org/en/node/138476 und http://archive.is/VubmN
  29. An der Stelle „Schwarzer“ wird im Lied durchgängig das N*-Wort benutzt.
  30. https://www.youtube.com/watch?v=JBOc2J_FMCc
  31. 2006-2013 verzeichneten die russischen Menschenrechtler 446 Todesopfer der rassistisch oder neonazistisch motivierten Gewalt in Russland, in der Ukraine wurden im gleichen Zeitraum dreizehn rassistisch motivierte Morde registriert (http://www.sova-center.ru/racism-xenophobia/publications/ unter Ежегодные Доклады; http://www.eajc.org/page451).
  32. http://www.sova-center.ru/database/
  33. Die Krim wurde vom russischen Reich erst Ende des XVIII Jahrhunderts erobert, etwa 200 Jahre nach der „Entdeckung“ Amerikas und der nachfolgenden Eroberung von Mexico und Peru durch die spanischen Konquistadoren. Zu einer demographischen Mehrheit wurden Russen auf der Halbinsel erst 1944, als Qirimli (Krimtataren) von Stalin nach Zentralasien deportiert wurden. Es handelte sich dabei nur um die letzte Deportationswelle zwischen dem Ende des XVIII Jahrhunderts und der Mitte des XX Jahrhunderts, die das Territorium der heutigen Südukraine von der autochtonen Bevölkerung komplett „befreite“. Dass in der heutigen Türkei zwischen fünf und sechs Millionen Tataren leben, während es auf der Krim etwa 200.000 sind, ist ein Umstand, der auf die zaristische Politik zurückzuführen ist. Die neue russische Eroberung der Krim schürte unter Qirimli nachvollziehbare Ängste und führte zur Auswanderung vieler von ihnen in die etwas weniger Qirimli-feindliche Ukraine.
  34. https://www.gazeta.ru/politics/2015/09/20_a_7767635.shtml
  35. http://georgy-fedorov.livejournal.com/579881.html; http://georgy-fedorov.livejournal.com/578625.html
  36. http://rodina.ru/novosti/Georgij-Fedorov-RODINA-okazalas-samoj-dinamichnoj-mobilnoj-i-gibkoj
  37. Victor Zaslavsky, The Neo-Stalinist State: Class, Ethnicity, and Consensus in Soviet society, Armonk: 1994.
  38. http://www.bbc.com/russian/media-37855400
  39. https://linksunten.indymedia.org/en/node/172982
  40. Leider ist dieses „können“ keine theoretische Möglichkeit: https://lenta.ru/news/2007/12/02/tuva/; http://www.sova-center.ru/racism-xenophobia/news/racism-nationalism/2008/08/d13999/; http://info.sibnet.ru/article/359507/; http://newsbabr.com/irk/?IDE=140497.
  41. http://www.faz.net/agenturmeldungen/dpa/wagenknecht-deutsche-politik-staerkt-terrorbanden-14591354.html
  42. http://forum1.inosmi.ru/world/20150923/230426962.html
  43. http://inosmi.ru/politic/20160926/237921080.html
  44. http://cepr.su/wp-content/uploads/2016/05/Борьба-с-экстремизмом.pdf

 


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