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Eigentlich hätte einer wie Iwan Iljin wenig Gründe, jemanden wie Wladimir Putin zu mögen. Zumindest den frühen Putin, den KGB-Agenten.[1]
Der „KGB“ erhielt seinen Namen 1954, kurz bevor Iljin im Schweizer Exil verstarb – und der in Leningrad geborene Wladimir seinen zweiten Geburtstag feierte. Ob der schwer erkrankte Iljin von der Umbenennung noch erfuhr, wissen wir nicht. Sicher kannte er die Organisation jedoch unter anderen Namen: TschK, GPU, NKWD, MGB.
Den letzten dieser Namen, „MGB“, erhielt sie unter Stalin (1943-1953) – und genau zu diesem Namen sollen die russischen Geheimdienste bis 2018 zurückkehren.[2] In den braunen Marionettenrepubliken der Ostukraine, in denen eine kitschige Mischung aus zaristischer und stalinistischen Symbolik zum Alltag gehört, firmieren die Geheimdienste bereits seit ihrer unseligen Errichtung unter dieser Abbreviatur, die auf Deutsch „Ministerium für Staatssicherheit“ bedeutet, oder kürzer: Stasi.[3]
Keine andere Organisation hasste Iljin so leidenschaftlich. Keine andere Organisation war für so viele Verhaftungen und Erschießungen seiner Gefährten verantwortlich wie diese. Iljin selbst, der seinen späteren Bekenntnissen zufolge zum weißgardistischen Untergrund in Moskau gehörte, wurde sechsmal verhaftet. Nach seiner letzten Verhaftung wurde er zum Tode verurteilt – eine Strafe, die glücklicherweise durch eine Verbannung aus der UdSSR ersetzt wurde. Das war im Jahr 1922 – im Vergleich zu den Dreißigerjahren waren die Repressionen noch relativ „milde“.
Im Exil wurde Iljin zu einer der prominentesten Stimmen innerhalb der weißgardistischen Bewegung. „Zu einem Propheten“ könnte man sagen, wäre seine Stimme außerhalb dieser Kreise rezipiert worden – und wären diese Kreise nicht so klein gewesen.
Zwischen 1948 und 1954 verfasste Iljin Dutzende von kurzen Texten im Stile von Predigten, die erst als Samisdat und später als selbständige Broschüren im weißgardistischen Milieu kursierten. Diese Schriftenreihe trug den Titel „Unsere Aufgaben“.
Auf den ersten Blick könnte man meinen, es handele sich dabei um eine, wenn auch in unregelmäßigen Abständen herausgegebene, Zeitschrift. Diese Broschüren beinhalteten jedoch meist nur einen einzigen Text, der immer vom selben Autor verfasst wurde.
In Buchform erschienen „Unsere Aufgaben“ erst posthum. Es handelt sich dabei um zwei schwarze Bände, die 1956 in Paris herausgegeben und erst 1993 in Russland neu aufgelegt wurden.[4]
Unserer Meinung nach verdient Iljins Werk ― zumindest im Kontext dieses Artikels ― keine allzu detaillierte inhaltliche Auseinandersetzung. Grundsätzlich handelt es sich dabei um eine ständige Wiederholung derselben Motive, eingehüllt in eine halbintellektuelle und halbprophetische Sprache.
Aus einer politisch neutralen, sagen wir, „ästhetischen“ Sicht, haben wir es mit einer Pseudophilosophie zu tun, einem billigen Produkt für schlichte Gemüter ― mit seinem Talent würde Iljin heute „Tipps für ein besseres Leben“ verfassen, Horoskope kommentieren oder Bücher für den Kopp-Verlag schreiben.
Eines der charakteristischen Merkmale von Iljins Werk ist nämlich dessen ausgesprochene Langweiligkeit. Auch wenn der Autor dieser Zeilen gezwungen war, sich umfassend mit Iljins Schriften vertraut zu machen, so muss er nachträglich gestehen, dass es keinen Unterschied macht, ob man fünf oder 25 von Iljins Artikeln gelesen hat.
Auf die inhaltliche Motive und den Stil Iljins werden wir später noch einmal kurz eingehen – doch das, was in einem anderen Fall als „Vorbemerkung“ der Sache selbst durchgegangen wäre, verdient in unserem Fall tatsächlich ein bisschen mehr Aufmerksamkeit: Iljins posthumer Aufstieg in den Pantheon der russischen Nationalphilosophen.
Iljin im heutigen Russland
Um die Rezeption Iljins im heutigen Russland und einige widersprüchliche Aspekte seiner Verklärung zu verdeutlichen, müssen wir gleich auf ein Spezifikum von „Unsere Aufgaben“ hinweisen: Den erbitterten Hass auf die sowjetischen Geheimdienste und die UdSSR, welche von Iljin nicht selten als „Sowjetien“ bezeichnet wurde.
Bis zu seinem Tode war Iljin überzeugter Monarchist, orthodox-christlicher Fundamentalist und Anhänger eines „einigen und unteilbaren Russlands“, eines Zarenreiches mit Finnland, Polen sowie einem Dutzend weiterer, heute unabhängiger Länder als Bestandteile. Keine andere Tugend beschrieb er in so leuchtenden Farben, wie den selbstvergessenen Dienst für die „Weiße Sache“.[5] Die Bewunderung für den europäischen Faschismus ließ bei Iljin selbst nach der Zerschlagung des NS-Regimes kaum nach. So schrieb er 1948, wenige Jahre vor seinem Tode:
„In der Zeit des Vormarschs von linkem Chaos und linkem Totalitarismus war [der Faschismus] eine gesunde, notwendige und unausweichliche Erscheinung. […] Schließlich hatte der Faschismus insofern recht, als er aus einem gesunden national-patriotischen Gefühl entstand, ohne das kein Volk seine Existenz oder Kultur behaupten kann. […] Denn man sollte immer daran denken, dass der Sozialismus antisozial ist, und soziale Gerechtigkeit und soziale Befreiung keinen Sozialismus oder Kommunismus dulden können.“[6]
Hier drückt sich Iljin sehr gezähmt aus, im Artikel „National-Sozialismus: Neuer Geist“ (1933) begrüßte Iljin die Errichtung des NS-Regimes viel leidenschaftlicher.[7]
Eigentlich ist aber alles klar, was Iljin angeht. Man und frau mag seine Ansichten, sowie die lebenslange Hartnäckigkeit, mit der er sich an diese klammerte, mögen oder nicht – sie waren zumindest kohärent und frei von eklatanten Widersprüchen.
Aber was ist mit Wladimir Putin, der weder seinen Dienst beim KGB bereut, noch den Untergang „Sowjetiens“ bejubelt – gleichzeitig aber keinen anderen russischen Denker so sehr wie Iwan Iljin zu schätzen weiß?
Die Stellung Iljins im heutigen Russland darf auf keinen Fall alleine auf Putins persönliches Zutun reduziert werden. Schon in den Neunzigern wurde Iljin ausgiebig vom einflussreichen Vize-Präsident der Russischen Föderation, Alexander Rutskoj zitiert. In seinem Buch „Die Wiederfindung des Glaubens“ bezeichnete Rutskoj Iljin als einen „großen russischen Denker“. Die stärkste oppositionelle Kraft in den Neunzigern war in Russland die Kommunistische Partei. Auf dem Höhepunkt des Einflusses der KPRF veröffentlichte ihr Vorsitzender, Gennadij Sjuganow, eine Art Programmschrift, „Die Lehren des Lebens“.[48] Während Karl Marx in diesem Buch fünf mal erwähnt wird, wird auf Iljin vier mal Bezug genommen. Dabei bezeichnet Sjuganow Iljin als einen „großen Philosophen“ und preist seine „prophetische Gabe“. In seinem Buch zitiert der Vorsitzender der Kommunistischen Partei die Ganzen Abschnitte aus „Unsere Aufgaben“ und benutzt Begriffe, die von Iljin geprägt wurden (wie „das internationale Hinterzimmer“).[49]
Als diese beiden Werke geschrieben wurden, war Wladimir Putin lediglich Mitarbeiter des Bürgermeisters von Sankt Petersburg und außerhalb dieser Stadt kaum bekannt.
Putin war damals Besucher eines Lesekreises, in dem Werke des Eurasiers Lew Gumilew gelesen wurden, und es war offenbar Regisseur Nikita Michalkow, der Putin die Lektüre Iljins empfahl. [8] Später schaffte es die Phraseologie Alexander Dugins in präsidialen Reden und prägte zu einem nicht unerheblichen Maß den offiziellen Diskurs russischer Machthaber.[9]
Der entscheidende Moment für die rechtskonservative Wende der russischen Politik war aber wohl die Orange Revolution in der Ukraine 2004. Der neue Kurs wurde durch die Ereignisse von 2011 (in Russland) und 2014 (in der Ukraine) weiter gefestigt. Auch in den letzten beiden Fällen war die Angst vor einer „Farbenrevolution“ im eigenen Land wohl der wichtigste Auslöser für die schwindelerregenden Überreaktionen.
Diese Angst speist sich aus der naiv-chauvinistischen Überzeugung, Russen und Ukrainer seien im Grunde ein und dasselbe Volk. Neben dem Präsidenten wird diese Überzeugung leider auch von der Mehrheit der Russen geteilt.[10] (Es muss nicht extra betont werden, dass diese Idee auch bei manchem westlichen „Russlandversteher“ auf Verständnis stößt.)[11]
Wenn aber Ukrainer in Wirklichkeit Russen sind, dann besteht die akute Gefahr, dass auch Letztere imstande sind, einen Autokraten zu stürzen — die Schlussfolgerung, die aus dieser naiven Annahme folgt, scheint sich in der Tat zu einem wichtigen Nährboden für die Ängste der russischen Machthaber entwickelt zu haben.
Seit 2004 sind Iljins „Unsere Aufgaben“ zu einer unerschöpflichen Zitatenquelle für die Reden des russischen Präsidenten geworden. Je feierlicher der Anlass, desto höher die Wahrscheinlichkeit, in seinen Reden auf Iljin zu stossen.[12]
Die erneute Beisetzung von Iljins Überresten 2005 geschah mit großem Pomp und unter persönlicher Beteiligung des Präsidenten. Begleitet wurde das Ganze durch eine überaus positive Berichterstattung in den russischen Medien, wobei die Huldigungen bis hin zu einer angeblichen „Iljin-Renaissance“ reichten.
Weitere Würdenträger begannen daraufhin, Iljin fleißig zu studieren, oder gaben damit an. Der inzwischen ehemalige Generalstaatsanwalt Wladimir Ustinow berief sich beispielsweise auf Iljin, als er meinte, der Staat solle von Adligen regiert werden (zu welchen er sich offensichtlich zählte).[13]
Es sollte kaum verwundern, dass zu den Iljin-Verehrern der „graue Kardinal“ des Kremls, Wladislaw Surkow, gehört – aber die Mode griff so weit um sich, dass selbst einer der Scheinliberalen des Kremls, Mewedew, Iljin als Pflichtlektüre für Studenten empfahl.[14]
Am Beunruhigendsten in diesem Kontext ist jedoch, dass der Staat auch daran setzt, Iljins Denken zum kulturellen Allgemeingut künftiger Generationen zu machen. So kommt es nicht von ungefähr, dass die neue Leiterin des Bildungsministeriums, Olga Wasiljewa, nicht nur eine christlich-orthodoxe Stalinistin, sondern auch eine leidenschaftliche Anhägerin Iljins ist.[15] Oder man beachte, dass der Rektor der bedeutendsten Hochschuleinrichtung Russlands, der Moskauer Universität, Iljin als „belebendes Wasser“ bezeichnet, „welches das Selbstbewusstsein der Nation wiederauferstehen lässt“.[16]
Nicht nur an den philosophischen Fakultäten wird Iljins Werk inzwischen fleißig studiert,[17] er schaffte es sogar in den Schulkanon (Fach Gesellschaftskunde).[18]
Die Aufwertung Iljins führte sogar dazu, dass die russische Präsidialverwaltung im Januar 2014 „Unsere Aufgaben“ als Neujahrgeschenk an die Gouverneure der Regionen, die wichtigsten Staatsdiener und die Kader der Regierungspartei „Einiges Russland“ schickte.[19]
Kurzum – kein anderer Denker wird von den Machthabern des heutigen Russlands derart verehrt und beworben.
Wie erreichte ein ehemals so marginaler und öder Denker wie Iljin diesen Rang? Wie passt er in den offiziellen Diskurs eines Landes, in dem die Rolle der sowjetischen Geheimdienste positiv umgedeutet und dutzende Stalin-Denkmäler errichtet werden?[20]
In den Neunzigern war die politische Kultur Russlands durch augenscheinliche Wertneutralität und Ideologiefreiheit geprägt. Dieser Schein war jedoch Instrument politischer PR-Kampagnen, nicht deren Ziel selbst. Denn obwohl sich die in dieser Zeit sehr einflussreichen politischen Imageberater, auch „Polittechnologen“ genannt, für überpolitische Demiurgen der Postmoderne hielten, lassen sich viele der von ihnen angewandten Strategien auf die Traditionen der zaristischen und sowjetischen Geheimdienste zurückverfolgen. So weist Andrew Wilson in einer detaillierten Untersuchung eine ununterbrochene Kontinuität von der zaristischen Ochrana bis zu den „postmodernen“ Moskauer Polittechnologen nach.[21]
So sehr diese Wertneutralität rein instrumental und zynisch angelegt war, so deutlicher zeigte sie ihre Kehrseite: Die verfolgten Ziele waren nämlich alles andere als wertneutral, sondern setzten ein ― wenn auch kaum reflektiertes und im höchsten Grade naives, anti-aufklärerisches und rechtskonservatives Weltbild voraus.
Noch deutlicher kam diese Kehrseite zum Vorschein nachdem die Polittechnologen im Zuge der Putin’schen „Stärkung der Machtvertikale“ an Bedeutung verloren, und zwar nicht zuletzt angesichts der immer größeren Bedeutungslosigkeit der Wahlen. Das heißt nicht, dass die angewandten Technologien den politischen Alltag nicht mehr prägten. Vielmehr verloren sie ihre „Autonomie“ und wurden zentralisiert. Viele ehemaligen Polittechnologen, wie Wladislaw Surkow, arbeiten heute direkt für die Präsidialverwaltung oder ließen sich auf andere Weise in den Staatsapparat integrieren.
Die Polittechnologien kehrten sozusagen zu ihrem Ursprung zurück: zu den Geheimdiensten als Schmiede der „active measures“, zur Präsidialverwaltung als Analog des ehemaligen Zentralkomitees, zu einem -zusammengenommen- zentralisierten und breit angelegten Apparat für die Fabrikation von Öffentlichkeit, der die Durchsetzung mit Geheimagenten und Einschüchterung durch punktuelle Repressionen genauso effektiv betreibt, wie die gleichgeschalteten Staatssender und Trollfabriken.
Dieser neue alte Apparat ist nicht nur im verwaltungstechnischen Sinne zentralisiert, sondern auch was seinen Zweck angeht, der trotz des eingesetzten ideologischen Patchworks immer aufs Gleiche hinausläuft – auf den weiteren Machterhalt durch die heutige russische Führung.
Genauso wie die Polittechnologen der Neunziger ist dieser Apparat ein ideologischer Allesfresser: Ein guter Zar schmeckt ihm nicht schlechter als Stalin, die christlich-orthodoxe Geistigkeit lässt sich genauso propagandistisch verwerten, wie der Geiz junger Komsomolzen.
Beim genaueren Hinsehen lassen sich dabei jedoch einige Aspekte unterscheiden: Zunächst kommt auch hier eine zynische, kalkulierte, rein instrumentelle Einstellung zur Gesellschaft als Objekt für Manipulationen zum Vorschein. Es kommt aber etwas Neues hinzu – ein Problem, mit dem die ehemaligen „freien Künstler“ der Polittechnologie nichts zu tun hatten: Die Schaffung einer neuen staatlichen Ideologie, oder zumindest ihres Ersatzes.
Genau an dieser Stelle wird es ernst, und es kommt eine Art geistige Armut zum Vorschein, die es nötig macht, aus dem Vorgefundenen etwas Neues zusammenzubasteln.
Sicher wurden dabei auch Einstellungen der Bevölkerung, wie Sowjetnostalgie miteinkalkuliert. Aber noch wichtiger ist, dass der Aspekt der Naivität, also die Kehrseite des „wertneutralen“ instrumentellen Zynismus der Machthaber offenbar wurde. Was sich hinter den politischen Technologien verbirgt und gleichzeitig die Voraussetzung ihrer konsequenten Anwendung ausmacht, ist nämlich ein ziemlich primitives rechtskonservatives Weltbild.
Selbiges kann auch als eine Art „professionale Krankheit“ der durch so viele ehemalige KGB bzw. jetzige FSB-Leute geprägten Führung des heutigen Russlands verstanden werden – oder als eine Art „Paranoia mit Spiegelreflex“, bei der man durch eigene Handlungen all das vollführt, was man gleichzeitig einem imaginierten Gegner zuschreibt. Wenn man in einer Welt lebt, in der keine demokratischen Prozesse, sondern nur Manipulationen, keine echten Revolten, sondern nur durch ausländische Geheimdienste provozierte Putschs möglich sind; in der überhaupt keine selbstständige politische Handlung, sondern nur der Kampf zwischen politischen Technologien existiert – dann verinnerlicht man ein entsprechendes Weltbild.
Zu diesem gehört die Vorstellung von der „Volksmasse“ als Objekt, das einer ständigen Kontrolle bedarf, die Idee von dem Vorrang angeblicher politisch-strategischer Ziele über das Gesetz, von der Geltung der Macht des Stärkeren auf der Weltbühne und ähnliches mehr.
Trotz der instrumentellen Bereitschaft mit allen ideologischen Inhalten zu spielen, gibt es also Dinge, von welchen Wladimir Wladimirowitsch fest überzeugt ist – mögen diese auch so einzigartig sein, wie der Glaube, dass Demokratie eine Lüge, oder dass die Ukrainer in Wirklichkeit Russen sind.
Oder anders ausgedrückt: Wenn es im Kreml ernst wird, so treten die abstrusesten rechtskonservativen Überzeugungen zu Tage, so betritt „der große russische Denker“ Iwan Iljin die Bühne.
„Ein großer russischer Denker“
Die Behauptung, Iwan Iljin sei ein großer russischer Philosoph, hat es inzwischen auf die Seiten respektierter internationaler Zeitungen geschafft. Sogar ein Kreml-kritischer Autor wie Timothy Snyder bezeichnet Iljin als einen “brilliant political thinker”.[22] Der russische Historiker Ilja Budrajtskis, ansonsten ein ziemlicher Systemkritiker und keineswegs Bewunderer Iljins, stellt ihn nichtsdestotrotz in eine Reihe mit Walter Benjamin.[23]
Selbst im deutschsprachigen „Philosophie Magazin“ wird Iljin als „herausragender Hegel-Spezialist“ bezeichnet.[24] Dabei können Sie sich jahrelang mit Hegel beschäftigen, ohne in der Forschungsliteratur auf eine einzige Bezugnahme auf Iljin zu stoßen. Man kann zwar ganz im Geiste Iljins spekulieren, dass dies an antislawischen Vorurteilen liege – doch die westliche Hegel-Interpretation besitzt eigentlich kein Problem mit slawischen Autoren – vom polnischen Grafen August Cieszkowski (Hegels späteren Zeitgenossen) bis hin zur Ljubljaner Schule der Psychoanalyse (Gegenwart). Wenige Denker haben die französische Philosophie der Nachkriegszeit so sehr beeinflusst, wie der als Russe wahrgenommene Hegel-Interpret, Alexandre Kojève (eigentlich war er Belarusse). Im Fall von Slavoj Žižek mit seiner geradezu affektierten slawischen Aussprache, kann man sogar streiten, ob er im Westen nicht ehe über- als unterschätzt wird.
Der Autor dieser Zeilen kann nicht umhin, diese Einschätzung als eine zutiefst krude Diffamierung der russischen Kultur des vergangenen Jahrhunderts zu empfinden. Es ist kaum vorstellbar, wie jemand, der Ossip Mandelstamm, Mikhail Bachtin oder Warlam Schalamow nur ein wenig gelesen hat, Iljin gleichzeitig als einen „großen russischen Denker“ bezeichnen würde. Wie gering müsste die Wertschätzung der russischen Kultur dafür sein, wie schillernd die Unkenntnis!
Wegen solcher unerhörten Verunglimpfungen kann man sich in der Tat lange aufregen. Der Beitrag Wladimir Putins, seiner Kamarilla und seiner westlichen „Versteher“ zu einer, milde gesagt, verzerrten Darstellung der russischen Kultur ist jedenfalls immens – und das betrifft nicht nur die überdimensonale Projektion einer Figur wie Iwan Iljin: Der von der hybriden Kommunikation, wie sie die heutige russische Führung betreibt, angerichtete Schaden lässt sich auch im Bereich der Kultur ausmachen. Seine Behebung wird noch eine jahre- wenn nicht jahrzehntelange mühevolle Arbeit in Anspruch nehmen.
Der Zweck dieses Artikels
Aber was kann man mit diesem Artikel hier erreichen? Können wir durch die Beschäftigung mit Iljin vielleicht „Putin besser verstehen“, oder gar so etwas wie Einblick in seine Gedankenwelt bekommen?
Die kürzeste Antwort darauf würde lauten: Nicht wirklich. Die Lektüre Iljins kann zwar einige wichtige Aspekte der Kreml’schen Quasi-Ideologie besser beleuchten – ihr Deutungspotential ist aber relativ beschränkt. Um „Russland besser zu verstehen“, müssen wir nicht irgendwelche Vorgänge im Putins Kopf konstruieren, wir sollten in erster Linie auf seine Handlungen schauen. Was die russische Außenpolitik anbelangt, so lässt sich beispielsweise einer der wichtigsten Aspekte auf eine atomare Erpressung reduzieren, die solange greifen wird, wie die etwas verwirrte internationale Gemeinschaft dieselbe noch hinnimmt.
Wie diese Erpressung funktioniert, auf welchen Methoden sie basiert, welche Reaktionen bei den Betroffenen sie auslöst und welche im Westen verbreitete kulturelle Vorurteile sie dabei ausnutzt —, bei all diesen Fragen empfiehlt sich eine gründliche Auseinandersetzung mit der Theorie und Praxis russischer Geheimdienste sowie das Studium der Geschichte „geschichtsloser“ Länder zwischen Berlin und Moskau jedenfalls eher als eine Iljin-Lektüre.
Es ist auch fragwürdig, inwiefern Putin von Iljin beeinflusst wurde. Es scheint sich dabei mehr um eine Übereinstimmung, als um eine Beeinflussung zu handeln. Iljins Schrifte dienen sozusagen als eine quasi-intellektuelle Stätte, in der das eigene Weltbild geweiht und legitimiert wird. Das Gerüst dieses Weltbildes kann aber auch ohne eine Untermauerung durch Iljin weiter feststehen, bzw. sich auch anderer Baustoffe bedienen.
Die rechtskonservative Wende in der russischen Politik hätte stattfinden können, auch wenn Iljin völlig unentdeckt geblieben wäre. Zu beachten ist auch, dass Iljins Denkgut im heutigen Russland nicht einmal annährend denjenigen Platz einnimmt, der ehemals für die Klassiker des Marxismus-Leninismus reserviert war. Obwohl die Iljin-Mode im heutigen Russland nicht ausschließlich auf Putin zurückzuführen ist, zeutgt die Tatsache, dass dieser Autor von vielen Angehörigen der politischen Elite Russlands zitiert wird, zumindest in ganz vielen Fällen womöglich mehr von Loyalitätsbekundungen gegenüber dem Präsidenten, als von irgendeiner spontanen und authentischen Popularität des „großen russischen Denkers“ in diesen Kreisen.
Was wird also mit dem vorliegenden Artikel bezweckt? Um ganz ehrlich zu sein, wollen wir hiermit vor allem der neuen deutschen Querfront mal wieder kräftig „in die Suppe spucken“. Die von den „Russlandverstehern“ verbreitete Mythen basieren nämlich nicht zuletzt auf Unkenntnis über das heutige Russland. Dieser Artikel ist somit als ein weiterer Beitrag zur deren Dekonstruktion konzipiert. Es handelt sich hierbei nicht um einen Versuch der Überzeugung derjenigen, die bereits tief im Querfrontsumpf stecken (eine undankbare und kaum ausführbare Aufgabe), sondern um die Bereicherung derjenigen mit Wissen und Argumenten, die mit der eurasischen Finsternis als Alternative für Europa nicht einverstanden sind.
Die größte Heldenfigur der neuen Querfront ist Putin. Putin sei gegen Faschismus und für den Frieden, heißt es. Derselbe Mensch verehrt aber Iwan Iljin. Genau an diesem Punkt wollen wir aufzeigen, dass da etwas grundsätzlich nicht zusammen passt. In seinen Schriften predigt Iljin genau das Gegenteil von dem, was die „Putiversteher“ den Intentionen der russischen Außenpolitik zuschreiben. Mit einem Wort: die Verehrung von Iljin lässt sich so wenig mit Antifaschismus und Friedensliebe in Zusammenklang bringen, wie etwa die Verehrung von Kim Jong-un mit einer Liebe für Meinungsfreiheit und einem Hass auf Diktaturen.
Uns geht es explizit auch um die Linke, genauer gesagt um den emanzipatorischen, antiautoritären, pro-demokratischen Teil der Reichweite dieses etwas zu breit angelegten Begriffs. (Den Stalinisten und Autoritären wünschen wir dagegen bis zu dem Ende der Zeiten im eisernen Griffe der Querfront zu verbleiben.)
Was wir also hiermit noch mal betonen wollen: Die Linken dürften Putin und die Rechtfertigung seiner Kriege ruhig den Rechten schenken – da passt es zumindest fugenlos. Von einer selbstverschuldeten Verwechslungsgefahr und schreiendem Auseinandersetzungsbedarf mal ganz zu schweigen.
Stil und Inhalt
Der Inhalt von Iljins „Philosophie“ ist ziemlich plump und lässt sich ohne einige originelle Ausnahmen (auf die wir eingehen) und ohne allzu großen Bedeutungsverlust auf wenige Thesen reduzieren. Viel beachtenswerter ist sein Stil: Bei manchem bereits eingestimmten und nicht besonders gebildeten Leser kann er sicher den Eindruck erwecken, er habe es gerade mit einem ausgesprochen Intellektuellen zu tun. (Beispielsweise bei einem russländischen Machthaber, der vor dem Schlafengehen ein paar Seiten von Iljns Weisheit genießt.)
Dieser Effekt setzt im Grunde nur zwei Dinge voraus: Keine große Vertrautheit mit geisteswissenschaftlicher Literatur und eine bereits vorhandene Zustimmung zu Iljins Thesen.
Es handelt sich in der Tat um eine Art „intellektueller“ Bestätigung des eigenen Weltbildes, die im Lichte einer mit staatlichen Förderung konstruierten Aura eines angeblich vergessenen, aber ganz „großen“ russischen Philosophen gesehen werden muss. Dieser Effekt erklärt sich nicht zuletzt durch eine für die heutige russische Politik typische Verkehrung, wobei Begriffen, Erscheinungen, Fakten ein entgegengesetzter Sinn zugeschrieben wird; bei der man einer halb paranoiden, halb kühl kalkulierten Strategie folgt, indem man all das realisiert, was einem konstruierten Feindbild zugeschrieben wird.
Tatsächlich ist es so, dass die Stelle, die die Lektüre Iljins in einer auf diese Art umgestalteten Welt einnimmt, derjenigen entspricht, die früher von der Lektüre von Dissidenten und verbotener Autoren eingenommen wurde.
Es sind die folgenden auf Iljins Werk (angeblich) zutreffende Prädikate, die bei der Kreierung seiner Aura eine entscheidende Rolle spielten: geheim, verboten, vergessen, oppositionell. Dass diese auf die Vergangenheit, und nicht auf heutige Zeit zutreffen; dass die Inhalte von Iljins Werken weit von dem entfernt sind, was die ehemaligen sowjetischen Dissidenten vertraten – das alles ist nur ein Teil der Verkehrung.
Dass Iljin schlussendlich von den heutigen Machthabern nicht verboten, sondern geradezu mit aller Kraft gewürdigt wird, gerät im Rahmen dieses Referenzsystems nicht so sehr zum Nachteil von Iljin, sondern zum Vorteil der Machthaber.
Was macht Iljins Stil aus? In erster Linie handelt es sich um eine spezifische Metaphorik.
Auch wenn es sich um einen philosophischen Text handelt, macht es keinen Sinn, Metaphern an sich zu verurteilen. Metaphern können klar und deutlich sein, sie können einen wichtigen Platz in einer rationalen Argumentationskette einnehmen, ohne dieselbe zu sprengen oder zu verdunkeln. Schließlich kann eine klare Grenze zwischen dem, was wir unter Metaphern, und dem, was wir unter Begriffen verstehen, womöglich nie sauber gezogen werden (und wenn es dem tatsächlich so ist, ist es sicher kein Nachteil weder für die Metaphern, noch für die Begriffe.)
Metaphern können aber auch schlecht und geschmacklos sein. Unser Hauptvorwurf gegen die Metaphorik Iljins begründet sich weniger auf einer argumentativen, sondern auf einer ästhetischen Ebene. Wenn man die plumpen rechtskonservativen Inhalte ausklammert, so bleibt von der „Philosophie Iljins“ in der Tat nichts außer einer schlechten ästhetischen Form übrig.
Nehmen wir einen der zentralen Begriffe Iljins, die „russische Idee“. Was ist das? Wie lässt es sich definieren? „Russische Idee — sagt Iljin — ist etwas Lebendiges, Einfaches und Schöpferisches“.[25] Da sie nicht rational ist — eigentlich befindet sich sämtliche bei Iljin als positiv konnotierte Begrifflichkeit / Metaphorik in einer ausgesprochenen Opposition zum „Rationalen“, „Formellen“, „Trockenen“ kurzum, zum „Westlichen“ — lässt sich die „russische Idee“ rational eben nicht beschreiben. Sie ist gleichzeitig negierend und tautologisch: „Es macht keinen Sinn und keinen Zweck, diese schöpferische Idee irgendwo zu entleihen —, sie kann nur russisch, nur national sein“.[26]
Diese Idee ist „dem Ursprung nach religiös, dem geistigen Sinne nach ist sie national“.[27] Sie ist aber auch die „freie und gegenständlich anschauende Liebe“. Die russische Idee muss eher gefühlt, als verstanden werden, sie tritt in einem Ensemble, in einem Zusammenklang mit anderen Metaphern, wie „russische Welt“, „russische historische Eigentümlichkeit“, „russische historische Berufung“, „lebendige Kraft der russischen Seele“, „die natürliche Orthodoxie der Seele“, „die unmittelbare Aufrichtigkeit des Geistes“ und dergleichen mehr.[28]
Die russische Idee kann auch an ihren Erscheinungsformen erkannt werden: „Über diese Idee lässt es sich sagen: So war es, und als es so war, verwirklichte sich das Schöne; und so wird es, und je voller und stärker es sein wird, desto besser wird es sein“.[29]
Zur russischen Idee bei Iljin lässt es sich noch viel ausführen – aber wenn Sie an dieser Stelle immer noch nicht imstande sind, diese zu begreifen, hat das Ganze sowieso keinen Sinn.
Nehmen wir lieber ein anderes Beispiel: Was ist „die lebendige Evidenz des Herzens“?[30] Sie wird nur durch andere, nicht weniger emotionale Metaphern umschrieben. Wenig überraschend ist, dass sie — wie die russische Idee bereits — auch gleich der Liebe ist, als der „wichtigsten geistig-schöpferischen Kraft der russischen Seele“.[31] Oder, um es klarer zu machen, kann man auf die Funktionen dieser „lebendigen Evidenz“ hinweisen: So liegt sie „dem russischen historischen Monarchismus zugrunde“.[32] Insofern nämlich der russische Mensch seit jeher zum Lieben und Glauben geneigt ist —, so Iljin — werden diese Neigungen in ihrer höchsten Form verwirklicht: der Verehrung des Monarchen.
In seiner früheren programmatischen Schrift, die etwas komplizierter ist als seine späteren Artikel, „Über den Widerstand dem Bösen durch die Gewalt“ (1925), spricht Iljin von einer „Evidenz“, die er mit Dutzenden von erhabenen Metaphern umschreibt.[33] Auch diese hat eine unmittelbare Beziehung zur Liebe. Die Evidenz begründet eine „negierende Liebe“.[34] Diese ist die höchste Form der Liebe, sie steht über dem Gesetz und äußert sich in einer uneingeschränkten Gewalt gegenüber den Menschen, die vom Bösen besessen sind. Die Anwendung dieser Gewalt darf bis zu Folter und Hinrichungen reichen – aber auch dann handelt es sich nach Iljin um ein Liebeszeugnis gegenüber dem Hingerichteten, da er auf diese Weise vom Bösen befreit wird. Die Sache der Befreiung der Seele darf nämlich vor dem Körper als dem „Werkzeug des Bösen“[35] keinen Halt machen. Wichtig ist nur, dass man das liebend ausführt, indem man die göttliche Evidenz vor Augen hat.
Auch dabei handelt es sich eher um eine Metaphern- als Argumentationskette, die ja logischerweise nur dazu dient, auf diese lebendig-herzliche Evidenz hinzuweisen. Anders gesagt, setzt das Verständnis dieser Evidenz die Offenheit derselben für den Leser voraus.
Wenn Sie also immer noch nicht verstehen, was die Iljinsche Evidenz sein soll, dann vielleicht nur deswegen, weil Sie kein Herz haben, oder bereits vom Bösen besessen sind, oder weshalb auch immer die Einsicht des Russischen Herzens für Sie verschlossen bleibt. Zumindest würde sich Ihr Unverständnis im Rahmen des metaphorischen Resonanzraums von Iljin auf eine ähnliche Weise erklären lassen.
Damit Iljins wilde Metaphorik ungestört ihr Unwesen treiben kann, muss der dafür vorgesehene Raum hermetisch bleiben. Das eine setzt hier das andere voraus: Das Unverständnis gegenüber dem, was in Iljins Universum evident ist, ist bereits als „das Böse“ integriert. In der Tat nimmt die vorsorgliche Schließung seines Universum keinen geringen Platz in Iljins Schriften ein. Sie äußert sich in einer pauschalen Brandmarkung von allem, was ihm widersprechen könnte. Ein vielschichtiger Erzfeind ist ein substantieller Bestandteil dieses Universums – ohne den es auf diese Weise nicht konstruiert werden kann.
Selbstverständlich werden hier alle Register bombastischer Metaphorik gezogen: So ist bei Iljin die Rede von der „falschen Lehre der angeblichen „Gleichheit᾽ aller Menschen“, von der „Verdorrtheit, Affektiertheit und Künstlichkeit des Westens“, vom „jüdischen Geist, der die katholische Kultur durchtränkte“, von der „Stunde des Unmuts und der Verwesung“, vom „satanischen Element“, von der „geistig toten und kranken Seele“ und dergleichen mehr.[36]
Die „Seelen“ im Sinne eines bereits im 19. Jahrhundert etwas altmodisch gewordenen religiösen Gedankenguts spielen in den Schriften dieses zu Beginn der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer noch aktiven Autors eine ganz herausragende Rolle. (Zum Vergleich: Freud und Husserl waren damals schon tot, die späteren Schriften Wittgensteins und die früheren Schrifte von Sellars wurden veröffentlicht, Lacan gab seine ersten Seminare, usw.)
So ist es auch mit der „bösen Seele“. Auf diese führt Iljin beispielsweise den „Internationalismus“ zurück, der bei ihm für die Idee der Allgemeingültigkeit von Menschenrechten und die Möglichkeit einer weltweiten Demokratie steht: „Diese platte und abgeschmackte Chimäre, dieses alles-ruinierende und gottlose Unterfangen ist die Ausgeburt der rationalen, bösen und neidischen Seele“, — schreibt Iljin in einem Text von 1950.[37]
Wenn wir schon bei den Feindbildern sind, so soll in diesem Kontext angemerkt werden, dass es Iljin war, der einen heute in Russland populären antisemitisch konnotierten Begriff prägte: „das internationale Hinterzimmer“.[38] In diesem werden die bösen Pläne geschmiedet, insbesondere gegen Russland.
Man könnte noch eine Unmenge von Metaphern anführen, die in Iljins Universum beheimatet sind – aber trotz deren Wildheit handelt es sich im Grunde um ihre ständige Wiederholung in unbedeutenden Abwandlungen. Wenn Ihnen Dutzend von ihnen schon nicht geschmeckt haben, brauchen sie weitere Hunderte von Iljins Metaphern auch nicht zu kosten.
Iljins „Argumentation“ lässt sich also in erster Linie auf eine eigentümliche Metaphorik reduzieren. Von dieser abgesehen, verbleiben nur ein paar knappe Thesen, auf die wir hier nur insoweit eingehen, als aus diesen ein paar beachtenswerte Eigenschaften von Iljins Weltbild zutage treten. Gerade die letzten beiden Thesen verdienen angesichts ihrer Originalität ein bisschen mehr Platz.
1. Monarchismus: Russland werde es nur dann wieder gut gehen, wenn es von einem Monarchen regiert wird. Als Übergangsform wird jedoch eine „nationale Diktatur“ zugelassen. (Da der Leser mit Iljins Metaphorik bereits vertraut ist, kann er sich selber vorstellen, wie die endlosen Entfaltungen dieser These bei unserem Autor nun aussehen können.)
2. Elitarismus: Eine gute Gesellschaft sei laut Iljin diejenige, in der eine „bessere“ Minderheit über den Rest der Gesellschaft regiert. All die historischen Probleme, die Russland plagten, stammen von der Missachtung dieses Prinzips. (Dazu schreibt Iljin sehr viel.)
3. Imperial-christlicher Nationalismus: Das künftige Russland dürfe nur national sein. Das heißt, alle Territorien des ehemaligen Zarenreichs müssen wieder unter der russischen Herrschaft vereinigt werden. Da Iljin grundsätzlich alles kritisch bewertet, was aus dem Westen kommt, versucht er den russischen Nationalismus im orthodoxen Christentum zu verankern. Doch letztendlich ist seine Behandlung der Religion eine instrumentelle — auch wenn er es nirgendwo explizit ausformuliert, spielt das orthodoxe Christentum bei ihm eine untergeordnete Rolle. Bei Iljin soll die Orthodoxie eher die Form und den Vehikel für den russischen Nationalismus liefern. Der letztere soll nicht nur mit der Orthodoxie vereinigt werden, de facto soll nach Iljin der alte Glaube mit einem neuen Inhalt gefüllt werden.
4. Der Westen als Ursprung des Bösen: Die Probleme Russlands ließen sich andererseits durch den Import böser Ideen aus dem Westen erklären. Damit meint Iljin nicht etwa den Faschismus — den er guthieß — sondern die Demokratie, die Idee der sozialen Gerechtigkeit, politische Freiheiten und dergleichen.
Das Prinzip des Westens sei Ratio – das russische Prinzip das Herz. Im Westen verstehe man nicht, dass ein Staat durch etwas höheres als das Gesetz und „sonstige zivilisierende Surrogate der Liebe“[39] regiert werden könne. („Wie schwer begreift der Europäer die Eigentümlichkeiten unseres Rechtsbewusstseins — seine Informalität, seine Freiheit von der toten Gesetzlichkeit, seine lebendige Neigung zu einer lebendigen Gerechtigkeit“.)[40]
Im Westen begreife man des Weiteren nicht, dass die „Neigung zu einer räumlichen Uneingeengtheit“ eine natürliche Eigenschaft der „russischen Welt“ sei.[41]
Andererseits würde man nicht verstehen, dass Russland sich nur deswegen vergrößerte, weil es sich verteidigen musste („[W]enn die anderen Völker und Völkchen es [das russische Volk] nicht gestört und behindert hätten, hätte es nie zur Waffen greifen müssen, hätte es nie seine Macht über sie behaupten müssen“).[42]
Kurz und gut: der Westen werde das Spezifikum Russlands und seine besondere historische Mission niemals begreifen können. Der Westen werde immer der Erzfeind Russland bleiben, er werde immer alles daran setzen, Russland durch Infiltrierung des Bösen zu zersetzen.
Obwohl Iljin den Begriff „Russophobie“ benutzt, hegt er selbst einige charakteristische Vorurteile gegenüber den Russen: Nach Iljin bedürfen sie einer starken staatlichen Kontrolle, sonst gewinne der „für den russischen nationalen Charakter typische Anarchismus“ die Oberhand, sonst werde es schlecht.
Anders gesagt: wenn Iljin geradezu obsessiv wiederholt, dass Demokratie und die anderen Verführungen des Westens in Russland nur schädliche Auswirkungen haben können, weiß man nicht genau, vor wem er eigentlich mehr Angst hat. Da die gefürchteten „weichen“ Züge des russischen nationalen Gemüts sich nicht durch den Einfluss des kalten, formellen und herzlosen Westen erklären lassen, werden sie bei Iljin auf den „Hauch Asiens“ zurückgeführt (eine weitere erkenntnisreiche Metapher).[43]
5. Autoritärer Staat: In Zentrum von Iljins Philosophie steht das Plädoyer für einen autoritären Staat. Hier vereinigen sich seine spirituellen Motive und sein programmatischer Hass auf den Westen auf die konsequenteste und originellste Weise.[44]
Die zentralen Begriffe sind hier „die Liebe“ und „das Böse“. Der Staat sei immer gut, er würde lieben. Der Staat sei das höchste Gut und gleichzeitig „das Organ des Guten, das Organ des Heiligtums“.[45] Da der Staat auch „das Gerechte“ sei, machen die Machthaber im Prinzip nie etwas falsch, es sei denn, sie lassen sich durch ein leblos-formelles Gesetz binden.
Würde sich die aus dem Westen stammende Idee vom Primat des Gesetzes durchsetzen, so eröffne sich der Weg für die Ansiedlung des Bösen im Herzen der Bürger. Passiere das Letztere, so müsse der Staat die Liebe über das Gesetz stellen und mit der Ausrottung des Bösen beginnen. Iljin sieht zwar darin eine „Tragik“, aber gerade in den Zeiten der Geistlosigkeit seien der Staat und alle Menschen des guten Willens dazu verpflichtet, ihre Liebe gegenüber den irrenden Mitbürgern durch den psychischen und physischen Terror walten zu lassen.
Da die vom Staat angewandte physische Gewalt alleine zur Verbesserung der Bürger nicht ausreichen würde, spiele psychischer Zwang und die Mitwirkung einer im vorauseilenden Gehorsam handelnden Zivilgesellschaft eine wichtige Rolle bei der Verwirklichung dieser Liebe. Diese sei charakterisiert durch: “Tadel, Abwesenheit von Mitleid, Ärger, Abkanzelung, Missbilligung, Verweigerung von Hilfe, Protest, Entlarvung, Anforderung, Hartnäckigkeit, psychischen Zwang, Verursachung psychischer Leiden, Härte, Schärfe, Entrüstung, Zorn, Verweigerung von Kommunikation, Boykott, physischen Zwang, Abneigung, Respektlosigkeit, Geringschätzung, Unverständnis, Unbarmherzigkeit, Hinrichtung.”[46]
Diese wahre Liebe sei so allumfassendend, dass die Idee vom Primat des Gesetzes und andere leb- und herzlose Verneigungen vor Formalitäten ihr nur im Wege stehen würden. Insbesondere, wenn das Böse bereits eingetreten sei… und so weiter und so fort. Nicht unzutreffend merkte Sinaida Gippius an, dass dort wo bei Iljin das Wort „Liebe“ auftaucht, auch ruhig das Wort „Hass“ stehen könne.[47]
6. Demokratie und soziale Gerechtigkeit… (Ähmm… Entschuldigung, da haben wir uns verschrieben!)
Kurz gesagt, dürfte es für die geneigte Leserschaft langsam verständlich werden, warum jemand wie Putin und seine FSB-Kamarilla einen Autor wie Iljin zu schätzen wissen. Unabhängig davon, ob es sich bei diesem Verhältnis um eine Beeinflussung oder eine Übereinstimmung handelt, gibt es gute Gründe dafür, warum „der große russische Denker” in diesem Umfeld zumindest als Bestätigungs- und Inspirationsquelle dient.
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Iljin starb, als sich die UdSSR wohl auf dem Höhepunkt ihrer historischen Entwicklung befand, und nichts auch nur im Geringsten auf den Untergang „Sowjetiens” hindeutete.
Über die Entwicklungen im heutigen Russland hätte sich Iljin gefreut. Sicher wäre er nicht besonders glücklich mit der KGB-Vergangenheit des herbeigesehnten — wie es bei Iljin heißt — „nationalen Führers”, sowie dessen positiver Einstellung zur sowjetischen Vergangenheit.
Letzterer wäre aber auch sicher der allerletzte, den diese Unstimmigkeit irgendwie stören würde (eigentlich ist er ja auch nicht dafür da, um etwas zu bereuen). Und so versöhnt sich die List und der feine Humor der Geschichte mit der List und dem authentischen Ernst der KGB-Männer…
An dieser Stelle möchte sich der Autor beim IWM – Wiener Institut für die Wissenschaft vom Menschen herzlich bedanken, bei welchem er im November 2016 die meisten Arbeiten für diesen Artikel durchführen konnte.
Fußnoten
- https://correctiv.org/recherchen/system-putin/artikel/2015/07/30/putins-fruehe-jahre/ ↑
- http://kommersant.ru/doc/3093174 ↑
- Man und frau stelle sich nur vor, wie einige Gemüter von Sätzen wie diese erheitert wären: „Die Stasi der DVR nahm Hunderte Faschisten fest“. Oder: „Die Stasi der LVR zerschlug einen Spionage-Ring“. Oder auch ganz einfach: „Der russische Geheimdienst wird in Stasi umbenannt“. ↑
- Es handelt sich um den Sammelband, der unter dem Titel “Über das künftige Russland” herausgegeben wurde und eine umfangreiche Auswahl aus “Unsere Aufgaben” beinhaltete. Im Folgenden zitieren wir meistens daraus (Иван Ильин, «О грядущей России», Москва: 1993). ↑
- “Die weisse Idee” (1926), in: «О грядущей России», С. 339-349. ↑
- “Über den Faschismus“ (1948), in: «О грядущей России», С.67-69. ↑
- Das Original zugänglich über: http://iljinru.tsygankov.ru/works/vozr170533full.html. ↑
- http://philomag.de/im-kopf-von-putin/; http://www.foreignpolicyi.org/content/putins-brain. ↑
- http://www.geopolitika.lt/?artc=5453 ↑
- Es brauchte ein ganzes Jahr Krieg gegen die Ukraine, damit sich diese Einstellung in Russland zum ersten Mal seit Beginn der Erhebungen unter 50 Prozent senkte (http://www.levada.ru/2016/06/16/13639/). Man beachte dabei, dass auch 2016 noch ganze 49 Prozent der Befragten in Russland die Ukrainer immer noch für identisch mit dem russischen Volk hielten, gleichzeitig aber 48 Prozent der Russen die Ukraine einen feindlichen Staat nannten (http://www.levada.ru/2016/06/02/rossiyane-reshili-kto-im-vragi/). Seit ein paar Jahren rangiert die Ukraine auf dem zweiten Platz „feindlicher Staaten“, gleich hinter den USA. Die erwähnten 48 und 49 Prozent können sich überschneiden, vermutlich tun sie es sogar stark. ↑
- Um für die deutschsprachige Leserschaft diese Position anhand einer Analogie begreiflicher zu machen: Man stelle sich vor, die Mehrheit der Deutschen würden glauben, Dänen seien in Wirklichkeit Deutsche, die bloß von einem komischen Nationalismus besessen seien, oder dass Holländisch keine eigene Sprache und Belgien im Grunde ein „gescheiterter Staat“ sei. Man bedenke auch, dass Österreich und die Schweiz aus einer solchen chauvinistischen Sicht sogar „deutscher“ wären, als die Ukraine „russisch“ ist. (Von den „geschichtslosen“ „Dazwischenländchen“ wie Luxemburg oder Liechtenstein mal ganz zu schweigen.) ↑
- Siehe z.B. die „Siegesrede“ nach der Krimannexion 2014 (http://www.kremlin.ru/events/president/news/47173). ↑
- http://www.kp.ru/daily/23446/36129/ ↑
- http://www.nytimes.com/2016/09/21/opinion/how-a-russian-fascist-is-meddling-in-americas-election.html?_r=1 ↑
- http://inosmi.ru/social/20160917/237874416.html; Vergleichen Sie auch die Veröffentlichungsliste von Wasiljewa: http://www.bogoslov.ru/persons/254499/. ↑
- http://www.pravoslavie.ru/19495.html ↑
- Vgl. http://vphil.ru/index.php?option=com_content&task=view&id=843. ↑
- Н.Н. Семке, Ю.В. Доля и др., «Обществознание. Пошаговая подготовка», Москва 2015. Siehe auch: http://foxford.ru/wiki/obschestvoznanie/ponyatie-prava; http://www.egeobed.narod.ru/p4aa1.html; http://www.metronews.ru/novosti/nazvany-100-knig-dlja-shkol-nikov-rossii/Tpomav—KjaiVxZcaJXjU/. ↑
- http://philomag.de/im-kopf-von-putin/. Neben „Unsere Aufgaben“ von Iljin bekamen sie dabei noch ein Werk mit dem vielsagendem Namen, „Die Philosophie der Ungleichheit“ von Nikolaj Berdjajew, und „Die Rechtfertigung des Guten“ von Wladimir Solowjew, eines weiteren Vertreter der „eurasischen Schule“, welcher der Überzeugung war, dass Europa angesichts der amerikanischen Bedrohung zu einer „Union christlicher Königreiche unter strategischer Kontrolle Russlands“ werden muss. ↑
- https://ru.wikipedia.org/wiki/%D0%9F%D0%B0%D0%BC%D1%8F%D1%82%D0%BD%D0%B8%D0%BA%D0%B8_%D0%A1%D1%82%D0%B0%D0%BB%D0%B8%D0%BD%D1%83#.D0.A0.D0.BE.D1.81.D1.81.D0.B8.D1.8F ↑
- Andrew Wilson, Virtual Politics: Faking Democracy in the Post-Soviet World, Yale University Press: 2005. ↑
- http://www.nytimes.com/2016/09/21/opinion/how-a-russian-fascist-is-meddling-in-americas-election.html?smid=fb-share&_r=0 ↑
- http://www.colta.ru/articles/raznoglasiya/13503 ↑
- http://philomag.de/im-kopf-von-putin/ ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 318. ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 318. ↑
- “Die Hauptaufgabe des künftigen Russlands“ (1951), in: «О грядущей России», С. 259. ↑
- «О грядущей России», С. 321, 318, 319, 323, ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 318. ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 320. ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 320. ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 320. ↑
- Das Original zugänglich über: https://azbyka.ru/o-soprotivlenii-zlu-siloyu. ↑
- „Über den Widerstand dem Bösen durch die Gewalt“, 19. Kapitel (https://azbyka.ru/o-soprotivlenii-zlu-siloyu). ↑
- „Über den Widerstand dem Bösen durch die Gewalt“, 7. Kapitel (https://azbyka.ru/o-soprotivlenii-zlu-siloyu). ↑
- «О грядущей России», С. 287, 267, 323, 339, 342, 264. ↑
- “Über den russischen Nationalismus“ (1950), in: «О грядущей России», С. 264. ↑
- Eines der Lieblingsbegriffe Iljins, siehe: «О грядущей России», С. 44, 89, 135, 137, 145, 158, 169, 170, 172, 177, 181, 183, 200, 205, 207, 260, 261, 262, 295, 351, 353. ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 320. ↑
- “Über den russischen Nationalismus“ (1950), in: «О грядущей России», С. 267. ↑
- “Über die russische Idee“ (1951), in: «О грядущей России», С. 321. ↑
- „Gegen Russland“ (1948), in: «О грядущей России», С. 132-133. ↑
- “Über die starke Macht“ (1951), in: «О грядущей России», С. 279. ↑
- Am ausführlichsten wird diese Thematik in „Über den Widerstand gegen das Böse durch die Gewalt“ behandelt, vielleicht dem originellsten Werk Iljins (das Original zugänglich über: https://azbyka.ru/o-soprotivlenii-zlu-siloyu). ↑
- „Über den Widerstand gegen das Böse durch die Gewalt“, 17. Kapitel (https://azbyka.ru/o-soprotivlenii-zlu-siloyu). ↑
- „Über den Widerstand gegen das Böse durch die Gewalt“, 16. Kapitel (https://azbyka.ru/o-soprotivlenii-zlu-siloyu). ↑
- Зинаида Гиппиус, «Меч и крест», das Original zugänglich über: http://anthropology.rchgi.spb.ru/pdf/67_Gippius4.pdf. ↑
- Das Original zugänglich über: https://kprf.ru/personal/zyuganov/zbooks/6486.html.
Die Originalwerke von Rutskoj und Sjuganow heißen “Обретение веры” (1995), bzw. “Уроки жизни” (1997). ↑
- Für diesen Hinweis möchte sich der Autor bei Roman Prijatkin bedanken. ↑